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Manfred Spitzers Lösung, um die Gedächtnisleistung nicht zu verlieren, ist die totale Medienabstinenz.

Foto: APA/Andy Rain

Sie machen dick. Dumm. Aggressiv. Einsam. Krank. Und unglücklich. Digitale Medien gefährden unsere Gesellschaft. Sie führen dazu, dass wir unser Gehirn weniger nutzen, wodurch seine Leistungsfähigkeit mit der Zeit abnimmt. Wir werden dement. Wegen der digitalen Medien. So lautet die Grundthese von Manfred Spitzers Buch "Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen". 

Der Psychiater und Gehirnforscher ist derzeit Dauergast in sämtlichen Talkshows, organisiert eine Pressekonferenz nach der anderen. Als Psychiater und Gehirnforscher habe er nicht anders können, als dieses "sehr unbequeme" Buch zu schreiben. Das Internet habe eine suchterzeugende Wirkung, weil Endorphine aktiviert werden. Gewalt, Depressionen, Einsamkeit seien Folgen der Sucht. Dabei führt nicht nur seine Argumentation mit den umstrittenen Schlussfolgerungen zu viel Kritik, sondern auch der Begriff der "digitalen Demenz" an sich. 

Suchen statt merken

Es geht nämlich nicht darum, sich nicht mehr an etwas zu erinnern. Vielmehr handelt es sich um einen Modebegriff, der das Verlernen von Fähigkeiten durch die Abhängigkeit von digitalen Geräten beschreibt. "Etwa, wenn Menschen keine Landkarten mehr lesen können, weil sie nur mehr GPS nutzen", erklärt der Medienforscher Christoph Klimmt. Um das zu verhindern, raten Gedächtniszentren oft dazu, nicht immer GPS, sondern ab und zu auch Landkarten zu verwenden oder sich bewusst Handynummern und Termine zu merken. 

Hinzu kommt, dass digitale Medien die Gehirnleistung verändern. Denn in der heutigen Zeit ist das Auffinden von Informationen wichtiger als das Merken. 2007 ergab eine Umfrage unter Büroangestellten in Südkorea, dass sie deutliche Defizite in der Merkfähigkeit aufwiesen. Die für das Suchen verantwortlichen Gehirnteile waren hingegen stärker entwickelt. "Die Gehirnleistungen gehen weg von dem, sich möglichst viel zu merken, und hin zu der Frage: Wo sind meine Informationen abgespeichert?", sagt Klimmt. Dass ein Psychiater ernsthaft gleich von "Demenz" spreche, halte er für "sehr problematisch". 

Totale Medienabstinenz

Für Manfred Spitzer ist die einzige Lösung, die Gedächtnisleistung nicht zu verlieren, die totale Medienabstinenz. "Jeder Tag, den ein Kind ohne digitale Medien zugebracht hat, ist gewonnene Zeit", schreibt er. So polemisch seine Thesen sein mögen - Spitzers Buch landete auf Anhieb auf der Bestsellerliste. 

Warum ist das Buch so erfolgreich? Für Klimmt spricht der 54-jährige Spitzer das aus, was sich viele Menschen seiner Generation schon gedacht haben: Digitale Medien sind schlecht. "Er reproduziert Klischees und stellt massiv vereinfachte Behauptungen auf, die Bildungsbürger seines Alters gegenüber diesen verteufelten neuen Medien bereits haben", sagt er. Vorteilhaft dabei ist sicher auch, dass Manfred Spitzer einen gewissen Status hat: Immerhin leitet er die Psychiatrie der Universitätsklinik Ulm. 

Viele Wissenschaftler, Autoren und Blogger bemühen sich seither um eine Gegenposition. Als "Sarrazin der Computerkritik" beschreibt ihn etwa der Medienpsychologe Peter Vorderer. Spitzer als Hirnforscher zu bezeichnen sei angesichts seiner populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen "fast so gewagt, als würde sich Michael Schumacher als Maschinenbauingenieur bezeichnen", meint Werner Bartens in der "Süddeutschen Zeitung"

Spitzer tangiert das wenig. Für ihn haben digitale Medien nur negative Auswirkungen. Danach gefragt, ob es denn nur die eine Wahrheit gebe, sagt er: "Immer dann, wenn es um nichts geht, hat die Wahrheit viele Gesichter" und "Wahrheit ist Wahrheit. Punktum." 

Computerspiele für Patienten 

In seiner Argumentation zitiert Spitzer, der im Klappentext seines Buches damit wirbt, "einer der bedeutendsten deutschen Gehirnforscher" zu sein, denn "kaum jemand kann wissenschaftliche Erkenntnisse derart pointiert und anschaulich präsentieren", eine Reihe von Studien. Diese seien aber nicht repräsentativ, sondern einseitig und unreflektiert, meinen die Kritiker. Dennoch: Spitzer bemüht sich nicht, Gegenargumente zu entkräften. Im Gegenteil: Studien, die den Nutzen und das Potenzial digitaler Medien erforschen, seien "schlechte Studien, die von der Computerindustrie bezahlt werden". Anders sei "der Unsinn, den Medienwissenschaftler schreiben, kaum zu erklären", meinte Spitzer im Interview mit der "Zeit". 

Doch die Forschungslandschaft zieht ein differenziertes Resümee: Ein Paradebeispiel für den Nutzen von digitalen Medien gibt es beispielsweise im Gesundheitsbereich. Das Spiel "Re-Mission", ein "Serious Game", wird bereits erfolgreich bei Krebspatienten eingesetzt. In diesem Spiel müssen die Erkrankten spielend den Krebs bekämpfen: Mit einem Chemo-Blaster werden bösartige Zellen niedergeschossen, auf den verschiedenen Levels lernen die Patienten außerdem mehr über die Krankheit und deren Behandlungsmöglichkeiten. In einer Untersuchung nahmen die jungen Patienten daraufhin wieder regelmäßig ihre Medikamente und hielten aktiv an der Behandlung fest. 

Auch in Österreich geriet Manfred Spitzer ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Gesellschaft für kritisches Denken kürte heuer zum zweiten Mal mit dem Goldenen Brett den herausragendsten Unfug des Jahres im Bereich der Pseudowissenschaft und Scharlatanerie. Spitzer wurde für eine Nominierung vorgeschlagen, für das Goldene Brett hat es dann aber doch nicht gereicht. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 13.11.2012)