Gute Miene zum bösen Spiel: Überall in Staten Island sitzen Familien vor ihren Häusern und winken den Vorbeikommenden. Seit das Wasser in ihre Häuser eingedrungen ist, kriecht ihnen die Kälte bis ins Gebein und es stinkt nach Schlamm.

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Die neuen Obdachlosen werden mit Bussen in Zeltlager und Highschools gebracht.

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Christliche Gemeinschaften verteilen allerorts gratis warmes Essen.

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Diese Familie hat direkt am Strand gelebt. Ihr Haus wurde von Hurrikan Sandy komplett zerstört ...

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... und mit den anderen Trümmern auf einen der riesigen Müllhaufen verfrachtet.

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Auch abseits vom Strand sind die Aufräumarbeiten weiter fortgeschritten.

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Von einem Normalzustand wird jedoch noch länger nichts zu merken sein.

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Manche Hausbesitzer haben bereits mit der Renovierung ihrer verwüsteten Häuser begonnen.

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Andere wie Computerfachmann Travis können sich ein neues Haus nicht leisten und werden die Gegend wahrscheinlich verlassen.

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Eine umgekippte Jacht liegt am Strand von Staten Island, der Insel südlich von Manhattan. Fünf Schaulustige haben sich um das Boot versammelt und machen Fotos von dem symbolhaften Opfer des Supersturms "Sandy". Im Hintergrund singt eine Band voller Inbrunst "Save our city, save our city". Soldaten sitzen auf Militärjeeps und filmen die Musiker mit ihren Smartphones. Die Sonne scheint an diesem Herbsttag warm auf das zerstörte Strandgebiet und erlöst die Anwesenden mit Blick auf das Finanzzentrum von New York City für einen Augenblick von dem Grauen in ihrem Rücken.

Auf einem Parkplatz nahe dem Strand tummeln sich dutzende Sturmopfer. Hilfsorganisationen haben dort ihre Zelte aufgeschlagen, um die vom Schicksal gebeutelten Menschen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Im Zelt der Brighton Beach Baptist Church, die Freiwillige aus dem ganzen Land für Unterkunft und Verpflegung nach New York holt, werden warme Hamburger, Hot Dogs und Chili angeboten. Daneben steht ein Zelt der bundesstaatlichen Katastrophenhilfe FEMA. Dort können sich die Menschen an den notdürftig aufgestellten Tischen mit Windeln, Zahnbürsten und gespendeter Kleidung für die nächsten Tage eindecken.

Bewaffnete Zuhörerschaft für Missionare

"Wir sind bereits seit Tagen unterwegs und besuchen die Menschen auch zu Hause, um ihnen mit Nahrungsmitteln und Christi Worten beizustehen", erzählt der christliche Missionar John. "Gestern Abend waren wir in Long Island. Es gibt auch dort noch keinen Strom. Deshalb reagieren die Leute oft schreckhaft, wenn man an ihre Tür klopft. Eine alte Frau hat uns angeschrien und davor gewarnt weiterzumachen. Sie meinte, dass viele Leute bewaffnet zu Hause sitzen und wir verletzt werden könnten."

Die Angst der Menschen vor Überfällen ist berechtigt. Bereits in der Nacht des Sturms wurden in Staten Island Häuser von Einbrechern ausgeraubt, die mit Booten unterwegs waren. Als besonders gefährlich gilt derzeit das stark beschädigte Gebiet in Rockaway, das östlich von Staten Island vor der Küste Brooklyns liegt. Die dort wohnhafte Anwältin Daria erzählt, dass sie seit dem Sturm nächtlich Schreie von Überfällen in ihrem Schlafzimmer hören kann.

Evakuierungsaufrufe ignoriert

Auch als im August 2011 Hurrikan Irene über die US-Ostküste gefegt war, hatten zahlreiche Einbrecher dies für Raubzüge genutzt. Diese Erfahrungswerte werden von den Menschen als Hauptgrund genannt, weshalb dieses Mal kaum jemand auf den Evakuierungsaufruf reagiert hat.

"Als Irene im Anzug war, haben sie uns angelogen und von der großen Überschwemmung gesprochen. Leute sind mit Lautsprechern durch die Straßen gegangen und haben: 'Evakuierung! Evakuierung!' gerufen", erzählt der Computertechniker Travis auf Staten Island: "Wir haben alle unsere Häuser verlassen und viele wurde daraufhin ausgeraubt. Dieses Mal ist niemand gekommen und darum sind fast alle Bewohner trotz der Sturmwarnung geblieben. Sollen wir uns bei jeder Meldung unsere Häuser auf den Rücken schnallen und wegrennen?"

Verlorene Erinnerungen

Midland Beach auf Staten Island zählt zur Zone A der überflutungsgefährdeten Gebiete. Probleme mit eintretendem Wasser gibt es, seit das Gebiet in den 1930er-Jahren als Sommerresidenz von New Yorks Elite genutzt wurde. "Wir sind an Überschwemmungen gewohnt", sagt Travis, "aber dieses Mal hat unser Viertel wie ein großes Meer ausgesehen. Innerhalb von fünfzehn Minuten haben wir alles verloren, unser Vermögen, unsere Erinnerungen. Die Fotoalben meiner Mutter kann mir keiner wiederbringen."

Neben der omnipräsenten Trauer, den weinenden Menschen vor den Häusern, die jedem Vorübergehenden zuwinken, und den Betrunkenen auf der Straße, die sich mit Galgenhumor über Wasser halten, ist eine starke Wut zu spüren. "Wenn mir Leute in den Hügeln hinter der Küste erzählten, sie hätten keinen Strom und ihre Keller seien überschwemmt, habe ich sie angeschrien: 'Dude, wir haben keine Häuser mehr. Meine gesamte Nachbarschaft steht unter Wasser.'", berichtet der Immobilienbesitzer Jack aufgebracht von seinem ersten Zusammentreffen mit den Bewohnern der Hills von Staten Island: "Aber sie wussten davon gar nichts, weil es ein Nachrichten-Blackout gegeben hat. Sobald sie davon erfahren haben, haben sie begonnen, uns zu helfen."

Hass auf Bürgermeister Bloomberg

Die Nachbarschaftshilfe funktioniere wunderbar, erzählen auch die umstehenden Leute. Unzufrieden sei man allerdings mit dem Vorgehen von Bürgermeister Bloomberg. Man habe gehört, er hätte eine Spende in der Höhe von 200 Millionen Dollar abgelehnt, weil New York die Krise allein bewältigen könne.

Kreative Schimpfwörter werden in die Runde geworfen, jeder habe derzeit gut Lust, dem Stadtoberhaupt persönlich seine Meinung zu sagen. Doch nicht nur die Bevölkerung im irisch dominierten Teil schimpft auf Bloomberg, auch die reicheren Bürger in Strandnähe beschweren sich über die Monotonie in seiner Stimme und das fehlende Mitgefühl gegenüber den Sturmopfern.

Viele können nach wie vor nicht glauben, was geschehen ist, bemühen sich jedoch, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren. "Unser Haus ist komplett zerstört. Es liegt auf dem Müllberg dort hinten", kämpft eine Familie in der Zeltstadt mit den Tränen. Die bereits volljährige Tochter streichelt den in eine Rettungsdecke gewickelten Hund und blickt wehmütig zu ihrem Vater. "Das Wichtigste ist, dass wir alle leben", sagt dieser mit sicherer Stimme, "das ist alles was zählt". Aus seinem Mund klingt dieser Satz beinahe wie ein Mantra.

Arche Hausdach

Acht Todesopfer wurden bis Sonntag allein in Midland Beach gezählt, insgesamt soll "Sandy" hundert Menschen das Leben gekostet haben. Dass nicht mehr den Tod gefunden haben, liegt vor allem am Einfallsreichtum der Bewohner. "Mein Nachbar hat für sich, seinen Sohn und seinen Hund ein Loch in die Decke geschlagen, als das Wasser eintrat. Dort oben haben sie dann in der Dunkelheit die Nacht ausgeharrt, bis am Morgen der Wasserspiegel langsam zu sinken begann", erzählt die Friseurin Eileen.

Andere sind mit Kind und Kegel auf ihre Hausdächer geklettert und haben dort die Nacht über ausgeharrt. Die Feuerwehrmänner, die in Booten die Runde machten, retteten bereits in den ersten Stunden rund 200 Leute. Die Verständigung erfolgte oft einzig über den Lichtstrahl von Taschenlampen.

Trostbringer Alkohol

Im ganzen Viertel sitzen die Menschen vor ihren Häusern und tauschen ihre Erfahrungen mit den Nachbarn aus. Doch nicht nur das Kommunikationsbedürfnis treibt sie auf die Straße, es sind vor allem der Schlammgestank und die Kälte im Inneren der nassen Häuser. Viele trinken und rauchen dabei, ein kleiner Trost nach den traumatischen Erlebnissen. 

"Diese Leute trinken den ganzen Tag", erzählt die Büroangestellte Ann-Marie, deren dreistöckiges Haus im reicheren Teil des Viertels nur im Erdgeschoß in Mitleiderschaft gezogen wurde. "Sie haben sich billig in die Strandhäuser eingemietet und nicht gemerkt, dass der Sommer auch mal zu Ende geht." Die Flut mag vieles hinweggespült haben, die Standesdünkel sind trotz der Katastrophe geblieben. Ann-Marie sitzt mit ihrer Familie vor dem Haus und lässt das Erlebte Revue passieren. "Mein Mann wäre fast ertrunken, doch Gott sei Dank konnte er sich mithilfe eines Nachbarn retten", erzählt sie aufgeregt.

Katastrophenzentren und Wiederaufbau

Die Aufräumarbeiten gehen mit Hilfe der zahlreichen Freiwilligen zügig voran. Wie viele der Häuser tatsächlich renoviert werden, bleibt allerdings fraglich. "Natürlich sind wir alle irgendwie versichert", sagt Computertechniker Travis mit sarkastischem Unterton. "Aber die Frage ist, ob die Versicherung in so einer Situation auch zahlt. Die Grundstücksbesitzer werden sicherlich wieder aufbauen oder renovieren. Was aus dem Rest von uns wird, weiß keiner."

Als Maßnahme gegen die Hoffnungslosigkeit eröffnet die FEMA just an jenem Nachmittag an neuralgischen Orten wie dem Rathaus der Insel vorübergehende "Disaster Recovery Centers". Dort können sich Betroffene eintragen und finanzielle Unterstützung beantragen. "Jeder Fall wird einzeln geprüft", sagt die FEMA-Angestellte Linda. "Wichtig ist, dass sich die Menschen registrieren und uns gestatten, Untersuchungen zu ihrem Fall durchzuführen, sonst können wir ihnen nicht helfen. Jetzt muss nur noch die Nachricht verbreitet werden, dass wir vor Ort sind."

Explosionsgefahr durch Elektrizität

Auch der Strom soll dieser Tage wieder angedreht werden. Dafür muss jedoch jedes Haus einzeln überprüft werden. Einerseits darauf, ob es überhaupt noch Bewohner beherbergt, andererseits, ob das Haus aufgrund der Zerstörung nicht explodiert, sobald die Elektrizität wiederkommt. Immerhin sollen 10.000 Haushalte auf der Liste stehen, es könnte also noch etwas dauern, bis warmes Wasser und Licht wieder Standard in Midland Beach werden.

Ebenfalls seit drei Tagen ist der Schulbus wieder in Betrieb. "Bis jetzt ist aber noch kein einziges Mal ein Kind eingestiegen", erzählt Ann-Marie. "Ich bin gespannt, wie lange er noch täglich vorbeikommt." (Tatjana Rauth, derStandard.at, 14.11.2012)