"Guten Morgen", begrüßt Sanjoli Jain die sechste Klasse. "Guten Morgen", schallt es aus 52 Kinderkehlen auf Deutsch zurück. Sanjoli verplempert keine Zeit, die Schulstunde ist nur 35 Minuten lang. Die 24-jährige Lehrerin steigt gleich mit den Artikeln ein. ,Küche", sagt sie. "Die", schreien die Kinder.

Was wie eine alltägliche Deutschstunde wirkt, ist tatsächlich eine kleine Revolution und könnte die beiden tausende Kilometer entfernten Nationen Indien und Deutschland enger zusammenbringen. Sanjoli unterrichtet an einer staatlichen Schule im Stadtteil R. K. Puram im Süden Delhis. Die Schule gehört zu der staatlichen Kette Kendriya Vidyalaya, kurz KV genannt, und ist einer der Vorreiter eines Projekts, das weltweit wohl beispiellos ist: Bis spätestens 2017 soll an den 1000 KV-Schulen in ganz Indien Deutsch als erste Fremdsprache überhaupt eingeführt werden.

Eine Million Deutschsprecher in zehn Jahren

Das bedeutet: In zehn Jahren könnten eine Million indische Schulkinder Deutsch gelernt oder zumindest Grundkenntnisse erworben haben. Neben den Amtssprachen Hindi und Englisch war das altehrwürdige Sanskrit bisher die einzige Sprache im Lehrplan. Erst vor knapp zwei Jahren entschied das zuständige Ministerium, Fremdsprachen an der staatlichen Schulkette einzuführen. Und die Wahl fiel nicht auf Spanisch, Chinesisch, Russisch oder Französisch - sondern auf Deutsch. Erst später sollen auch andere Sprachen folgen.

Gelandet hat den Coup das deutsche Goethe-Institut, das seit Jahrzehnten in Indien für deutsche Sprache und Kultur wirbt. Puneet Kaur ist beim Goethe-Institut die Leiterin des Projekts "Deutsch an 1000 Schulen". Nun muss sie in drei bis fünf Jahren 1000 Deutschlehrer aus dem Hut zaubern oder besser: in den Weiten Indiens finden. Bisher sind 250 bis 300 Schulen versorgt.

Doch Indien ist riesig. Manche der Schulen liegen in so entlegenen Gebieten, dass selbst die Inderin Kaur erst auf der Landkarte nach den Orten suchen muss. Lehrer für diese abgeschiedenen Posten zu finden ist nicht einfach. Zumal auch das Gehalt mit 20.000 Rupien (knapp 290 Euro) im Monat nicht üppig ausfällt. In teuren Megastädten wie Delhi oder Mumbai lockt das nur wenige. Viele Absolventen eines Sprachstudiums gehen lieber in die Wirtschaft, wo sie besser verdienen.

Bei der Auswahl der Lehrer kann Kaur daher die Messlatte nicht allzu hoch anlegen. Einige der Deutschlehrer lernen selbst noch Deutsch - wichtig ist nur, dass sie den Schülern um etwa ein Jahr voraus sind.

"Zentraler Zukunftsmarkt"

Die Deutschoffensive, die vom Auswärtigen Amt bezuschusst wird, ist kein Selbstzweck. An fast allen Fronten bemühen sich die Deutschen derzeit, die Beziehungen zu Indien zu vertiefen. "Für Unternehmen ist das aufstrebende Indien einer der zentralen Zukunftsmärkte. An Deutsch sprechenden indischen Fachkräften besteht schon jetzt großer Bedarf", sagt Michael Steiner, seit Juli Deutschlands neuer Botschafter in Indien.

Umgekehrt wird auch der Standort Deutschland talentierte Studenten und Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen, will er künftig die Uni-Hörsäle füllen und seinen Bedarf an Fachkräften decken. Und Indien verfüge über ein "großes Reservoir an exzellenten Fachkräften." Und mehr noch: Als Exportnation braucht Deutschland auch neue Märkte - wie Indien, das 1,2 Milliarden Einwohner zählt.(Christine Möllhoff aus Neu-Delhi, DER STANDARD, 14.11.2012)