Es wäre ein triftiger Grund, routinemäßig zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen und das individuelle Erkrankungsrisiko zu ermitteln: Kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall sind mit 43 Prozent nach wie vor die häufigste Todesursache in Österreich. Wird das Risiko als hoch erkannt, könnte man durch eine frühzeitige Lebensstiländerung oder entsprechende Medikamente das Risiko reduzieren.

In den USA wurde daher bereits vor 30 Jahren der sogenannte Framingham-Score eingeführt, der aus bestimmten Parametern wie Cholesterinspiegel, Blutdruck, Zuckerkrankheit, Rauchen, Alter und Geschlecht das Erkrankungsrisiko abschätzt. Das Problem bei diesem Test: Mehr als die Hälfte aller Herzinfarkte und Schlaganfälle erleiden Menschen, denen im Framingham-Score ein "niedriges Risiko" bescheinigt wurde.

"Auch die in Europa eingesetzten Scores haben alle denselben Nachteil: Sie sind ungenau, wodurch die Risikovoraussagen oft nicht stimmen", weiß der Innsbrucker Neurologe Stefan Kiechl. Gemeinsam mit Johann Willeit und Kollegen aus verschiedenen Fachbereichen hat sich der Wissenschafter deshalb das ehrgeizige Ziel gesetzt, ein verbessertes und damit aussagekräftigeres Klassifizierungssystem für kardiovaskuläre Erkrankungen auf der Basis neuester Erkenntnisse und angepasst an mitteleuropäische Verhältnisse - wo die Menschen im Durchschnitt weniger fettleibig sind als in den USA - zu entwickeln.

Ziel des vom Land Tirol geförderten Forschungsprojekts ist der " Tirol-Score", der zusätzlich zu den in gängigen Klassifizierungssystemen erfassten Daten auch eine Ultraschalluntersuchung der Halsschlagader beinhalten soll. "Mit dieser Untersuchung können auf sehr einfache Weise Verkalkungen der Halsschlagader ermittelt werden", sagt Stefan Kiechl. " Das Ausmaß der Verkalkung zu kennen ist deshalb so wichtig, weil es die Summe aller Risikofaktoren sowie die genetische Disposition widerspiegelt."

Eine weitere Neuerung des Tirol-Scores ist die Einbeziehung alter Menschen in die Testroutine. Bisherige Scores sind auf 40- bis 75-Jährige ausgerichtet, im hohen Lebensalter klafft eine große Lücke. " Diese Lücke wollen wir schließen, da die Lebenserwartung ständig steigt und ältere Menschen einen immer größeren Teil der Bevölkerungspyramide bilden", betont der Neurologe.

Geringer Aufwand

"Idealerweise sollte der neue Score, wenn eine erfolgreiche Etablierung gelingt, bei allen praktischen Ärzten aufliegen und bei Menschen ab dem 40. Lebensjahr in Fünf- oder auch Zehn-Jahres-Intervallen durchgeführt werden", sagt Kiechl. "Der Aufwand wäre gering, die Bestimmung der krankhaften Ablagerungen an den Blutgefäßwänden der Halsschlagader mittels Ultraschall dauert nur wenige Minuten."

Bereits jetzt verursachen kardiovaskuläre Erkrankungen in Europa Kosten von rund 170 Milliarden Euro jährlich, und mit der zunehmenden Lebenserwartung der Menschen werden diese Ausgaben weiter steigen. Deshalb arbeiten weltweit zahlreiche Forschergruppen an der Entwicklung von effektiven neuen Scores.

Dass die Innsbrucker Mediziner in diesem wissenschaftlichen Wettstreit an vorderster Front mitmischen, hat mit einem vor 22 Jahren begonnenen Langzeitprojekt zu tun: Damals wurde von ihnen im Südtiroler Städtchen Bruneck eine Studie zur Früherkennung bzw. Vermeidung von Schlaganfall, Herzinfarkt und Diabetes gestartet. Seit 1990 werden 500 Männer und 500 Frauen regelmäßig nicht nur auf die klassischen Risikofaktoren hin untersucht, sondern auch auf Verkalkungen der Halsschlagader. " Inzwischen ist die Bruneck-Studie die weltweit am zweitlängsten laufende Populationsstudie", sagt Projektpartner Johann Willeit von der Uni-Klinik für Neurologie in Innsbruck, "und überdies die einzige, in der Verkalkungen der Halsschlagader regelmäßig erfasst werden." Für die Wissenschafter bedeutet diese Studie einen großen Forschungsvorsprung, für die Bürger von Bruneck dagegen ein nachgewiesenes Plus an Gesundheit, denn in den letzten zwanzig Jahren sind die kardiovaskulären Erkrankungen im Ort um 17 Prozent zurückgegangen.

Kurzzeitprognosen

Zusätzlich zur langfristigen Vorhersage von Herz-Kreislauf-Erkrankungen will man im Rahmen des Projekts auch Methoden für eine kurzfristige Prognose entwickeln, die voraussagen, ob es innerhalb der nächsten Tage zu einem Schlaganfall oder Herzinfarkt kommen könnte. Die Wahrscheinlichkeit akuter Gefäßerkrankungen hängt davon ab, ob instabile Plaques (krankhafte Ablagerungen an den Blutgefäßwänden) vorhanden sind. Entsprechende Untersuchungen konnten bislang nur mit großem Aufwand an wenigen hochspezialisierten Kliniken durchgeführt werden.

Im Tirol-Score Projekt geht man nun einen völlig neuen Weg: So führt der britische Projektpartner Manuel Mayr am King's College London Voruntersuchungen durch, in denen jene Stoffe ermittelt werden sollen, die aus den aufbrechenden Plaques freigesetzt werden. "Inzwischen hat man bereits mehrere kleine Eiweißstoffe gefunden, die in diesem Fall in großen Mengen abgesondert werden", berichtet Kiechl.

Diese Eiweißstoffe sind so klein, dass sie in den Harn übergehen und dort konzentriert werden. "Wir haben deshalb die Hoffnung, sie mit einem einfachen Harntest nachweisen zu können." Gelingt es den Forschern in den nächsten Jahren, die Wirksamkeit ihrer neuen Ansätze nachzuweisen, könnte der Tirol-Score in Zukunft die Schlaganfall- und Herzinfarktraten mit geringem Aufwand deutlich reduzieren. (Doris Griesser , DER STANDARD, 14.11.2012)