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Langeweile führt zu Körperlichkeit und damit zu einem gesteigerten Gefühl von Subjektivität und Zeit.

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In der Kindheit und Jugend dauerten die Sommerferien unvorstellbar lange. Ein ganzes Schuljahr bedeutete beinahe die Unendlichkeit. Verglichen mit damals vergeht im Erwachsenenalter ein Zeitraum von sieben, acht Wochen wie im Flug, und Arbeitskollegen erschrecken sich in regelmäßigen Abständen gegenseitig damit, wenn sie anmerken wie viele Jahre sie nun schon gemeinsam arbeiten. Scheinbar unmerklich ist die Zeit vergangen - mit zunehmendem Alter wurde sie vermeintlich immer schneller.

Dass es sich bei dieser Feststellung weniger um einen anekdotischen Allgemeinplatz handelt, als um eine Wahrnehmung, die auch einer wissenschaftlichen Prüfung standhält, belegen mittlerweile zahlreiche Studien aus der Kognitionspsychologie. So zeigte sich, dass die Anzahl der im Gedächtnis behaltenen Ereignisse und erlebten Veränderungen während eines Zeitraumes dessen subjektive Dauer bestimmen.

Auf die Erinnerungen kommt es an

"Wenn wir auf Wochen, Monate oder Jahre zurückblicken, kommt automatisch die Erinnerung ins Spiel. Das bedeutet., je mehr Erinnerungsinhalte ein Mensch hat und je mehr er sich an Dinge erinnert, die ihm emotional wichtig waren und damit als bedeutend abgespeichert wurden, desto länger kommt ihm die Zeit vor", erklärt Zeitforscher Marc Wittmann vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg.

Kindheit, Jugend, Adoleszenz und frühes Erwachsenenalter sind demnach Lebensphasen, die eine Vielzahl an neuen Erfahrungen und damit Erinnerungen beinhalten. "In der Kindheit bedeuten drei Jahre eine gewaltige Entwicklung, wo vieles zum ersten Mal passiert. Mit fortschreitendem Alter kommt hingegen die Routine ins Spiel, so dass automatisch weniger Erinnerungen im Gedächtnis abgespeichert werden", so Wittmann.

Es ist also die Erinnerungszeit, die unsere subjektive Wahrnehmung von vergangener Lebenszeit steuert. "Neuartige Ereignisse werden in ihrer Zeitdauer vergleichsweise überschätzt, weil sie das Denken und die emotionale Bewertung stärker beanspruchen. Altbekanntes muss im Gegensatz dazu nicht sonderlich analysiert und eingeordnet werden, und wird deshalb weniger intensiv wahrgenommen", ergänzt der Psychologe.

Die Zeit "dehnen"

Allerdings können wir unser Zeitempfinden auch im Alter beeinflussen, verändern und "verlangsamen" - allerdings nur im begrenzten Ausmaß. "Die Routine durchbrechen" lautet das theoretisch einfache Konzept, das es in die Alltagspraxis zu integrieren gilt. "Um zu spüren, dass die Lebenszeit langsamer vergeht, müssen wir uns immer wieder neu positionieren und Erfahrungen machen, die durch ihren Gefühlswert langfristig im Gedächtnis gespeichert bleiben. Denn durch eine größere Abwechslung, lässt sich auch im Alter die Zeit 'dehnen‘", resümiert der Experte.

Exotische Länder bereisen, neue Herausforderungen annehmen, unbekannte Terrains betreten, gelten als adäquate Methoden, um das Leben subjektiv langsamer vergehen zu lassen. Doch vor zu hohen Erwartungshaltungen sei gewarnt, "denn selbst bei aktiven und flexiblen Menschen stellt sich zwangsläufig irgendwann das Gefühl von Wiederholung ein, wenn etwa das zwanzigste exotische Land bereist oder die neueste in einer ganzen Kette von Geschäftsideen verwirklicht wurde", ist Wittmann überzeugt.

Das Konzept der "Körperlichkeit"

Eine andere Möglichkeit, um die Zeitwahrnehmung zu verändern, liegt darin, den Fokus nicht auf die Retrospektive, sondern auf den Moment - also die prospektive Zeit - zu legen. Dem entgegen wirkt allerdings das Konzept der Gleichzeitigkeit, indem etwa beim Kochen das TV-Gerät läuft und während eines Telefonats E-Mails beantwortet werden. "Handlungsabläufe sind zunehmend parallel geschaltet. Durch diese Gleichzeitigkeit der Tätigkeiten entsteht eine mangelnde Verarbeitungstiefe", gibt Zeitforscher Wittmann zu bedenken.

Das heißt, wir verlieren uns in der Gegenwärtigkeit, ohne uns bewusst zu erleben. Bewusstsein ist allerdings untrennbar an den eigenen Körper gebunden. "Nur so kann ich mich als mit einem Körper und über die Zeit hinweg als existierend erleben", erläutert der Experte. Pausen schaffen, kurze Auszeiten nehmen sind Techniken, um sich im "Jetzt" zu spüren. "Was Raucher beispielsweise automatisch alle ein bis zwei Stunden machen - nämlich für eine Zigarettenlänge raus zu gehen - sollten auch Nichtraucher kultivieren. Einfach drei Minuten raus, durchatmen und zu sich selber kommen", rät Marc Wittmann.

Langeweile führt zu sich selbst

Subjektive Zeit ist auch die Zeit des Körpers, wie in Experimenten im Isolationstank - einem Setting, das kaum äußere Reizen zulässt - nachgewiesen werden konnte. "Obwohl hier der Großteil der Sinne temporär ausgeschaltet ist, bleibt der Körpersinn bestehen, da Signale von Muskeln und Organen weiterhin und permanent im Gehirn ankommen. Die eigenen körperlichen Vorgänge dienen so als subjektive zeitliche Referenz", erklärt der Psychologe.

Ähnlich verhält es sich mit dem Phänomen der "Langeweile", das wir in erster Linie aus Kindertagen kennen. "Man ist sich in solchen Momenten selbst auf unangenehme Weise ganz nah, was zu einem gesteigerten Gefühl von Subjektivität und Zeitlichkeit führt", so Marc Wittmann. Vielleicht sollten wir alleine deshalb wieder lernen uns zu langweilen. Wer das nicht will oder kann, dem bleibt zumindest ein kleiner Trost: Die subjektive Geschwindigkeit des Zeitverlaufs nimmt zwar etwa bis zum 60. Lebensjahr ständig zu, pendelt sich jedoch ab diesem Alter auf ein gleichbleibendes Niveau ein. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 2.1.2013)