Wüstensand, Zelte und zigtausende Flüchtlinge - das Camp Zaatri im Norden Jordaniens ist zum Sinnbild der syrischen Flüchtlingskrise geworden. Bernd Noggler, von der Abteilung Zivil- und Katastrophenschutz des Landes Tirol, war vor mehreren Wochen vor Ort, um die EU-Hilfe zu koordinieren. Im Interview mit derStandard.at verweist er auf die Unterschiede mit anderen Flüchtlingskrisen und bewertet die angespannte Lage in Jordanien.

derStandard.at: Herr Noggler, Sie waren mit einem fünfköpfigen Team des europäischen Zivil- und Katastrophenschutzes vor wenigen Wochen in Jordanien. Wie sah Ihre Arbeit vor Ort aus?

Noggler: Jordanien hat seit Ausbruch der Krise mit der Flüchtlingssituation zu kämpfen. Zu Beginn sind viele der Flüchtlinge durchwegs bei Freunden und Bekannten untergekommen oder haben sich in freie Wohnungen einmieten können. Aber nach einem halben bis dreiviertel Jahr waren einfach die Ressourcen nicht mehr verfügbar. Es sind zunehmend Menschen aus Syrien geflüchtet, die nicht das Geld haben, sich irgendwo einzumieten.

Für diese große Anzahl an Personen hat die jordanische Regierung beschlossen ein Flüchtlingscamp in Zaatri, im Norden Jordaniens, zu errichten. Dort waren wir tätig. So ein Camp muss natürlich entsprechend ausgestattet werden. Im September hat das Königreich Jordanien beim EU-Civil-Protection-Mechanism um Assistenz angefragt, um gewisse Sektoren in diesem Camp abdecken zu könne, die mit ihren vorhandenen Ressourcen nicht mehr abdeckbar waren.

derStandard.at: Wie viel Geld stellt die EU für die syrische Flüchtlingshilfe zur Verfügung?

Noggler: Insgesamt flossen aus der EU bis Mitte Oktober Gelder in der Höhe von 220 Millionen Euro in die syrische Flüchtlingskrise und damit in die Länder Jordanien, Türkei, Libanon und zu einem kleinem Teil auch in den Irak. 120 Millionen Euro davon aus Geldern der EU-Kommission, der Rest kommt direkt von einzelnen Mitgliedsstaaten. Es ist sehr schwierig, den Geldfluss auf einzelne Länder aufzuschlüsseln, aber viel davon ist sicherlich nach Jordanien geflossen.

Um ein derartiges Camp zu betreiben, braucht man Generatoren, Zelte, Waschcontainer, etc. - das konnte man zu Beginn noch am lokalen Markt erwerben. Im Laufe der Zeit wird es aber zunehmend schwieriger diese Dinge vor Ort zu bekommen. Das ist dann genau jener Punkt, wo der europäische Katastrophenschutz aktiv wird - und zwar weniger mit Geld sondern mit Material, das dann in den betroffenen Raum gebracht wird.

derStandard.at: Mit zigtausenden Flüchtlingen ist das Zaatri-Camp im eines der größten Flüchtlingscamps überhaupt. Wenn Sie das mit anderen Flüchtlingskrisen vergleichen, bei denen Sie ebenfalls mitgeholfen haben, wie stellt sich die Situation im Norden Jordaniens dar?

Noggler: Auf den ersten Blick, war die Situation vor Ort nicht anders als in vielen anderen Flüchtlingscamps: In gewissen Bereichen des riesigen Camps gibt es noch Chaos und unstrukturierte Ansammlungen von Zelten und Waschmöglichkeiten und Toiletten. Allerdings hat man schon im August damit begonnen, Teile des Camps neu zu errichten, um sie gewissen Standards anzupassen. Mittlerweile ist der Standard des Zaatri-Camps deutlich höher als der vieler anderer Camps, die ich im Zuge meiner Arbeit - etwa in Kenia, Uganda oder Tunesien - gesehen habe.

Bei genauerer Betrachtung sieht man allerdings einen ganz großen Unterschied zu allen anderen Camps, die ich bisher besucht habe. In Jordanien sind die Camp-Bewohner Leute wie du und ich. Das sind Menschen, die aus einem geregelten Leben, aus einem ordentlichen Familienverband, aus ihren eigenen vier Wänden - Apartments und Häusern - herausgerissen wurden. Das heißt sie haben eine mehr oder weniger sichere Umgebung plötzlich verlassen müssen und sitzen in einem Camp und wissen nicht, was passieren wird. All das in einer Umgebung, die komplett anders ist, als das, was sie bisher kannten. Und das ist schon ein Unterschied zu Camps zum Beispiel in Afrika, wo die Menschen auch in ihrer "normalen" Umgebung oft keine adäquate Infrastruktur vorfinden.

derStandard.at:Die Sicherheitslage in Zaatri ist nicht unproblematisch. Es gab vermehrt Berichte über Zusammenstöße im Flüchtlingscamp, auch Befürchtungen, dass sowohl Elemente des Regimes Unruhestifter ins Camp schicken, als auch, dass Rebellen vor Ort Unterschlupf finden. Wie haben Sie die Sicherheitslage vor Ort erlebt?

Noggler: In der Zeit, in der ich im Camp war, war es eigentlich sicher. Polizei und Militär versuchen das Camp einigermaßen zu sichern. Aber auch wir haben Informationen bekommen, wonach das syrische Regime gezielt versucht haben soll, Leute ins Camp zu schleusen, um Unruhe zu stiften. Das passiert auch immer wieder. An einem Tag, an dem wir gerade das Camp verlassen haben, haben wir über Funk die Meldung bekommen, dass alle Nicht-Jordanier das Camp sofort verlassen sollen, weil es in gewissen Bereichen des Camps Schwierigkeiten gibt. Solche Vorfälle gibt es und man versucht das natürlich in Sicherheitspläne mit einzubauen.

derStandard.at: Der UNHCR-Vertreter in Jordanien war im Interview mit derStandard.at voll des Lobes für die jordanischen Sicherheitskräfte. Als jemand, der selbst vor Ort war: Wie haben Sie die Arbeit von Militär und Polizei erlebt?

Noggler: Die jordanische Polizei und das Militär machen einen sehr guten Job vor Ort. Bei so einem großen Camp kann natürlich immer etwas schief gehen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie - auch im Vergleich zu anderen Camps - genau wissen, wie sie mit der Situation umgehen müssen. Die Behörden zeigen auch großes Gespür, wie man mit so großen Menschenmengen umgeht und versuchen, dass es in diesen Camps einigermaßen sicher ist.

derStandard.at: Internationale Hilfsorganisationen starten regelrechte Betteltouren, um mit dem Flüchtlingsstrom auch finanziell Schritt zu halten. Wie dramatisch ist die finanzielle Situation tatsächlich?

Noggler: Man kann durchaus sagen, dass die finanzielle Situation dramatisch ist. Wenn man die Berichte verfolgt, hat es ja in den vergangenen Tagen wieder einen starken Anstieg an Flüchtlingen gegeben, womit man wieder Geld brauchen wird, um das Camp zu erweitern. Aber das betrifft nicht nur Jordanien, sondern auch die Türkei und den Libanon. Dass mehr Geld erforderlich ist, ist so sicher wie das Amen im Gebet.

derStandard.at: In Zaatri steht der Winter vor der Tür. Können Sie beschreiben, was der Wintereinbruch in der Wüste für die Flüchtlinge bedeuten kann?

Noggler: Wenn man die Camp-Bilder vom Sommer sieht, mit Wüste, Sand und Temperaturen über 40 Grad, kann man sich schwer vorstellen, dass es dort im Winter zum Teil auch Minusgrade geben kann. In Amman gibt es durchaus Tage, an denen es Schneefall gibt und das kann im Norden Jordaniens natürlich auch passieren. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen können die Temperaturen auf null Grad sinken. Das wichtigste ist, dass man Material bekommt, um das Camp winterfest zu machen. Das war auch eine unserer Aufgaben vor Ort.

derStandard.at: In der Südtürkei ist aufgrund syrischer Grenzverstöße die Lage sehr angespannt. Haben Sie so etwas auch in Jordanien gesehen?

Noggler: Grenzverstöße habe ich selbst nicht gesehen, allerdings haben wir von anderen bedenklichen Entwicklungen gehört. Ende September sind von heute auf morgen plötzlich keine Flüchtlinge mehr über die Grenze nach Jordanien gekommen. Sowohl Flüchtlinge als auch Behörden gaben an, dass Heckenschützen auf der syrischen Seite gezielt auf Flüchtlinge geschossen haben und so den Flüchtlingsstrom für mehrere Tage zum Erliegen brachten.

derStandard.at: Nicht nur in Zaatri, sondern im gesamten Land gibt es zigtausende syrische Flüchtlinge, die wirtschaftliche Lage ist angespannt. Zusätzlich gibt es Demonstrationen und zunehmend politische Instabilität im Königreich. Wie angespannt haben Sie die Lage in Jordanien erlebt?

Noggler: Man ist auf jeden Fall nervöser - vor allem Regierungsstellen, Polizei und Militär. Aber auch in Teilen der Bevölkerung gibt es ein gewisses Aufbegehren, wegen der großen Anzahl an Flüchtlingen. Das kennt man ja auch bei uns, wenn drei Kinder über die Grenze kommen, ist das eine oder andere Bundesland schon überfordert. Aber in Jordanien sprechen wir von tausenden Flüchtlingen. Die UN geht von über 120.000 Flüchtlingen aus, die jordanischen Stellen von über 200.000. Die Probleme beginnen da teilweise schon in kleinen Dörfern, wo die lokale Bevölkerung beklagt, dass sie sich keine Wohnungen mehr leisten kann, weil Syrer so viele Wohnungen mieten und besser zahlen.

Aber es gibt auch Befürchtungen, dass sich der Konflikt auf Jordanien ausweitet. Was mir Jordanier immer wieder sagen, ist, dass sie sehen, was in Syrien gerade passiert und sie alles vermeiden wollen, dass etwas vergleichbares auch in Jordanien geschieht. (Stefan Binder, derStandard.at, 16.11.2012)