STANDARD: In Österreich gibt es, ausgelöst durch Olympia 2012, wo "Dabei sein ist alles" sehr wörtlich genommen wurde und keine einzige Medaille errungen werden konnte, eine Debatte um den Turnunterricht in der Schule. Gefordert wird eine tägliche Turnstunde - eine richtige, berechtigte Forderung?
Kubesch: Die Forderung ist äußerst berechtigt. Ein umfassendes und qualitativ hochwertiges Sportangebot ist für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen absolut zu empfehlen, sowohl was ihre körperliche als auch ihre geistige Entwicklung anbelangt. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die körperliche Fitness einen positiven Effekt auf Gehirnfunktionen ausübt, die in einem engeren Zusammenhang mit der Lernleistung stehen als der IQ. Die körperliche Fitness kann ich aber nur steigern, indem ich viel Sport ausübe.
STANDARD: Welche Hirnfunktionen werden durch Sport beeinflusst?
Kubesch: Im Besonderen lassen sich die exekutiven Funktionen durch körperliche Aktivität beeinflussen. Diese wichtigen Gehirnfunktionen werden im Wesentlichen dem Stirnhirn, dem präfrontalen Kortex, zugeordnet. Sie steuern unser Denken und damit die Aufmerksamkeit, unser Verhalten und die Emotionen. Wir sprechen auch von der Fähigkeit zur Selbstregulation. Personen, die bereits in der Kindheit, im Alter zwischen drei und zehn Jahren, über eine gut ausgebildete Selbstregulation verfügt haben, sind als Erwachsene gesünder, wohlhabender und werden weniger häufig straffällig als Erwachsene, die in der Kindheit eine schlechtere Selbstregulation aufgewiesen haben. Über akute körperliche Belastung und eine gesteigerte körperliche Fitness kann man positiv auf die exe kutiven Funktionen einwirken, die der Selbstregulation und der Lernleistung unterliegen.
STANDARD: Derzeit turnen Kinder in Österreich in der Volksschule pro Woche zwei bis drei Stunden, in der Unterstufe drei bis vier Stunden, in der Oberstufe, speziell in berufsbildenden höheren Schulen, aber oft nur zwei Stunden pro Woche. Wie viel Sport sollte gemacht werden?
Kubesch: Kinder und Jugendliche sollten möglichst mindestens einmal täglich ins Schwitzen kommen. Die Fettverbrennung ist die Voraussetzung dafür, dass wir mehr Serotonin im Gehirn bilden. Dieses Mehr an Serotonin hat einen positiven Einfluss auf unterschiedlichste zentralnervöse Prozesse: Die Stimmung geht hoch, aggressives Verhalten und Ängste nehmen ab, Gedächtnisprozesse werden gefördert und die Stressverarbeitung unterstützt. Aufgrund der Datenlage würde ich empfehlen: Täglicher Schulsport, idealerweise ergänzt durch ein außerunterrichtliches Sportangebot - insbesondere im Ganztagsangebot von Schulen. Dabei ist darauf zu achten, dass eine gewisse Intensität und Dauer der körperlichen Belastung vorhanden ist. Dann kann Sport seine vielfältigen Wirkungsmöglichkeiten am besten entfalten.
STANDARD: In welcher Weise?
Kubesch: Kurze, hochintensive Belastungen haben einen Effekt auf die Lernleistung. Vokabeln werden schneller gelernt und besser behalten, konnten Neurologen aus Münster nachweisen. Aber auch die Sportspiele sind positiv zu bewerten. Bei Sportarten wie Handball, Basketball und Fußball benötigt man neben vielen weiteren Fähigkeiten eine schnelle Umstellungsfähigkeit von Verteidigung auf Angriff. Das trainiert die kognitive Flexibilität, eine der zentralen exekutiven Funktionen.
STANDARD: "Sport macht klug", sagten Sie bei ihrem Vortrag im Rahmen der Zoom Lectures zu "Kindheit heute" in Kooperation mit dem Standard. Welche Positiveffekte hat Sport auf die sozial-emotionale Entwicklung?
Kubesch: Inhibition ist die Fähigkeit, sich zu hemmen, spontane Impulse zu unterdrücken. Diese exekutive Funktion steht in einem positiven Zusammenhang mit dem Sozialverhalten. Ist die Inhibition gut ausgebildet, fällt es Kindern und Jugendlichen leichter, einen Konflikt mit Worten zu führen und nicht mit Fäusten auszutragen. Inhibition lerne ich in Kampfsportarten wie Judo, Karate und Tai-Chi, aber auch im Yoga, beim Tischtennis und in vielen weiteren Sportarten. In zahlreichen Sportangeboten kann man diese zentralen Hirnfunktionen spielerisch trainieren. Dabei lässt sich die Selbstregulation durch die Einhaltung klarer Regeln im Sport unmittelbar durch das eigene Handeln im Sport in jeder Trainingseinheit üben. Da das Stirnhirn nicht einzelne Fakten speichert, sondern allgemeine Regeln, können sich Einstellung und Haltungen, die im Sport gelernt werden, wie Anstrengungsbereitschaft, Fairplay, Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen, auf andere Lernbereiche übertragen.
STANDARD: Welche Rolle spielt in Lernprozessen dann noch der IQ?
Kubesch: IQ und Fitness stehen in einem engen Zusammenhang. Eine Langzeitstudie aus Schweden zeigt, dass eine Fitnesszunahme im Alter zwischen 15 und 18 Jahren mit einer höheren Intelligenz im Erwachsenenalter korreliert. Eine höhere Fitness im Alter von 18 Jahren wiederum steht in einem positiven Zusammenhang mit einem höheren Bildungsabschluss und sozio-ökonomischen Status im weiteren Lebensverlauf. In dieser Studie wurden auch ein- und zweieiige Zwillinge einbezogen. So konnte man zeigen, dass nicht die Genetik ausschlaggebend ist, sondern die nicht geteilten Lebensbedingungen. Man kann mit Sport offensichtlich die Intelligenz beeinflussen.
STANDARD: Schule ist noch immer vor allem eine "sitzende" Angelegenheit. Welche Empfehlungen können Sie dafür geben?
Kubesch: Wir wissen aus Studien, dass sich nach dem Sportunterricht die Fähigkeit, Störreize auszublenden, verbessert. Diese Fähigkeit wird ebenfalls den exekutiven Funktionen zugeordnet, die mit der Lernleistung korrelieren. Von daher ist es wichtig, dass wir den Sportunterricht möglichst nicht in die Randstunden oder in den Nachmittag legen, sondern an den Beginn des Schultags oder vor andere wichtige Fächer.
STANDARD: Und wie kann "Bewegung als Unterrichtsprinzip" denn konkret umgesetzt werden?
Kubesch: Koordinative Übungen etwa haben schon nach zehn Minuten einen positiven Effekt auf exekutive Funktionen. Solche Übungen lassen sich vergleichsweise einfach in den Unterricht einbauen. Ein Lehrer und Künstler aus der Schweiz, Eduard Buser-Batzli, verbindet Lernen und Bewegung auf kreative Weise und äußerst erfolgreich. Die Kinder jonglieren und balancieren beim Lernen und trainieren dabei ihre Aufmerksamkeit. In eine ganz andere Richtung weist eine Studie aus den USA. Neunjährige Kinder zeigen nach einer 20-minütigen mittleren Ausdauerbelastung bessere Aufmerksamkeitsleistungen und schneiden auch in Lernleistungstests direkt nach der körperlichen Aktivität besser ab. Die genannten Beispiele machen deutlich, wie vielfältig Sport und Bewegung in Schulen umgesetzt werden können: vor der Klassenarbeit eine Runde Laufen, vor dem Vokabellernen Sprinten, im Klassenzimmer jonglieren und balancieren, und vor allem brauchen wir mehr Sportunterricht. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 17./18.11.2012)