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Fast 150 Jahre ist es her, dass Henrik Ibsen einen Satz niederschrieb, der nun erst, unter den Bedingungen der Europäischen Union, zur bitteren Blüte gelangt: "Der Staat ist der Fluch des Individuums." Vollends vom Brüsseler Superstaat gilt dieser freiheitsgefährdende Zusammenhang. Wo die EU ist, weicht die Freiheit, und überall will sie sein. Die zwei jüngsten Kampagnen für den entgrenzenden und letztlich totalitären Regulierungswahn der EU firmieren unter den Codewörten "Clean IT" und "Fünf Freunde".

Kein Normalfall ist vorgesehen

Wer bisher dachte, der Jugendbuchklassiker von Enid Blyton sei eine Folge in die Jahre gekommener Schmöker für die Adoleszenz, spannend und brav zugleich, der muss umdenken: Schlimme Schriften sind es, hinfort mit ihnen. Zumindest weiß die "Daily Mail" vom wild entschlossenen Ansinnen der EU zu berichten, Kinderbücher mit "veralteten Rollenklischees" im Unterricht zu verbieten. Es wäre eine drakonische, offen diktatorische Maßnahme und abermals die Zensur einer kleinen gegenwärtigen Gruppe über die Vergangenheit zu zukünftigen Zwecken. Der neue Mensch soll auf dem Verfahrensweg herbei gezwungen werden.

Was die Norm einst setzte und es oft noch heute ist, genügt nicht den Anforderungen der Exekutoren des (vermeintlichen) Zeitgeistes. Jeder und jede soll alles dürfen und für alles von jedem und jeder Applaus bekommen. Kein Normalfall ist prinzipiell vorgesehen, die Spreizung soll herrschen. Also wäre es fashionable, gälte als schick, wenn Kinder aus Büchern erführen, dass Frauen gute Kranführer sind und Männer gute Hebammen und Mama ohne Papa ihren Mann steht und der Staat der beste Erzieher ist und beliebig viele Männer ebenso eine postfamiliale "Lebensgemeinschaft" bilden können wie beliebig viele Frauen, ob auf Zeit, ob auf Dauer.

Gabriele Kuby zufolge ("Die globale sexuelle Revolution") zielt die strategische Agenda der EU ein "neues Menschenbild" an, eine "neue Ethik im Bereich der Geschlechter und der Sexualität und, daraus folgend, eine neue Rechts- und Gesellschaftsordnung". Für dieses Ziel einer kleinen Elite würden "die Menschenrechte instrumentalisiert, welche einer ständigen Neuformulierung und Ergänzung unterliegen und manipulativ interpretiert werden". Ein "Respekt der EU vor der Selbstbestimmung eines Mitgliedstaates bezüglich Ehe und Familie" sei nicht erkennbar. Darin liegt die große Gefahr der permanenten EU-Machtausweitung: Demokratie wird von der politischen Grundbedingung zur Gnade, die "Brüssel" gewähren kann oder nicht. Nationale Souveränität wird zum Relikt der Vergangenheit, das es auszureißen gilt auf Gedeih und Verderb. Gleiches gilt von der Freiheit, beim neo- und transhumanen Mummenschanz nicht mitmachen zu wollen.

Großversuche am lebenden Objekt

Denselben Geist der administrativen Gewalt atmet "Clean IT". Das von der EU geförderte Projekt hat nichts Geringeres zum Ziel als die Komplettüberwachung des Internets - Zensur auch hier. Zur vermeintlichen "Bekämpfung illegaler Inhalte im Netz" sollen Privatunternehmen mit dem Superstaat kooperieren. Was aber "illegale Inhalte" auszeichnet, wird nirgends definiert. Heute so, morgen anders, frei nach Gusto, könnte die EU von den Providern mal diese, mal jene Inhalte anfordern, sie mit einem Bann belegen, löschen und die jeweiligen User zwangsdisziplinieren. Völlig zu Recht erkennen die Piraten in diesen Plänen eine "tiefe Missachtung der demokratischen Willensbildung" vonseiten der EU.

Ob ein "sauberes" Internet auf den Fahnen der EU steht oder gleich der neue, der rückstandslos durchgegenderte Mensch: Großversuche sind es am lebenden Objekt, am Individuum, das gegängelt, kujoniert, kleingehalten werden soll. Jeder Mensch trägt schließlich einen Freiheitsfunken in sich und ist also eine lebende Gefahr für einen nach stetig mehr Macht gierenden Despoten, in welchen sich die Europäische Union zu verpuppen droht. Herrschen will sie und zwar ganz. Der Apparat braucht Menschenfleisch. (Alexander Kissler, derStandard.at, 21.11.2012)