Im Dezember bestreitet Jesper Juul mehrere Vorträge und Workshops in Österreich

Foto: Family Lab

Bild nicht mehr verfügbar.

Bruder oder Schwester zu werden, ist für Kinder nicht immer einfach.

Foto: APA/Frank May

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Foto:

Eine Leserin fragt:
Wir haben einen fünfjährigen Sohn und planen, noch ein Kind zu bekommen. Wie können wir ihn darauf vorbereiten?

Jesper Juul antwortet:
Ich würde zuerst darüber nachzudenken, wer euer Sohn ist. Wie geht es ihm als Einzelkind? Wie geht es ihm mit Veränderungen? War er bisher das Zentrum der Familie und bekam viel Aufmerksamkeit? Ist er eher extrovertiert oder introvertiert? Diese Antworten helfen, einen Eindruck zu bekommen, wie er möglicherweise einen Familienzuwachs erleben wird.

Der nächste Schritt wäre, über eure Situation als Eltern zu reden. Warum wollt ihr noch ein Kind? Wie sind eure Erfahrungen, Geschwister zu haben? Habt ihr Wünsche, wie das Verhältnis zwischen euren Kindern sich entwickeln soll? Das ist in Ordnung, solange die Kinder nicht gezwungen werden, nach euren Vorstellungen zu leben. Als zukünftigen Bruder würde ich euer Kind so früh wie möglich einbeziehen: "Wir haben uns entschlossen, noch ein Kind zu bekommen, und möchten gern wissen, was du davon hältst."

Das bedeutet nicht, dass er bestimmen soll, aber seine Reaktion wird Aufschluss geben, wo er steht. Vielleicht ist er abweisend, skeptisch oder sofort voller Freude. Wenn er skeptisch ist, ist es eine gute Idee, im Laufe der fortschreitenden Schwangerschaft mit ihm über seine Gedanken und Gefühle zu reden. Nicht um die Skepsis in Freude umzuwandeln, sondern um ihm zu zeigen, dass er so sein darf, wie er ist. Je mehr er dieses Gefühl mitbekommt, umso flexibler kann er sein, wenn er die neue Schwester oder den neuen Bruder trifft.

In der traditionellen Kindeserziehung wird gerne das Alter des größeren Kindes hervorgehoben. Entweder wie eine Art statusgebende Beobachtung ("Jetzt bist du der Große!") oder in Form von Zurechtweisungen ("Jetzt musst du der Vernünftigere sein!"). Beides ist schlecht, weil die Erstgeborenen in eine Rolle gedrängt werden, die auch ihre negativen Seiten hat. Beobachtet das Kind im Laufe der Schwangerschaft: Ist er viel oder wenig engagiert? Macht er sich Gedanken über seine neue Rolle? Ist er interessiert an dem kleinen Kind in Mutters Bauch, oder ist er mit seinen eigenen Dingen beschäftigt? Was antwortet er, wenn andere nach seinen Erwartungen fragen? Und wieder: Versucht nicht, ihn in seiner Art zu verändern, sondern lernt darüber, wer er ist.

Wenn er gerne spricht, ist es gut, mit ihm zu sprechen. Am besten mit euren eigenen Gedanken und Gefühlen als Ausgangspunkt. Spricht er nicht viel, könnt ihr ihn einladen, Zeichnungen davon zu machen, wie die Familie aussieht, wenn der/die Kleine geboren ist. In den letzten drei Monaten wäre es gut, wenn der Vater sich mehr um ihn kümmert. Nicht nur, weil die Mutter auf das Baby fokussiert ist, sondern auch, weil ein Sohn jemanden braucht, bei dem er sich entspannen und ein wenig maskuline Nahrung aufsaugen kann. 

Wahrscheinlich wirst du als Mutter ein schlechtes Gewissen haben, weil du nicht so viel für ihn da sein kannst wie sonst. Das führt dazu, dass entweder beide Elternteile versuchen, diesen Verlust an Zeit, Platz und Aufmerksamkeit wettzumachen, oder dazu, dass Mütter unmögliche Erwartungen an sich stellen und das schlechte Gewissen von Schuldgefühlen abgelöst wird.

Diese Schuldgefühle reichen oft, dass es für den Großen schwierig wird, sich seiner neuen Familie anzupassen. Passt auf mit Aussagen wie: "Wir versuchen ihm genauso viel Aufmerksamkeit wie vorher zu geben." Das wird nicht möglich sein und auch nicht notwendig. Kinder fordern viel Aufmerksamkeit, aber sie brauchen zum Glück nicht so viel, wie sie fordern. Je mehr sie erleben, dass sie "gesehen" werden, umso weniger Aufmerksamkeit fordern sie.

Vom sechsten Schwangerschaftsmonat bis eineinhalb Jahre nach der Geburt ist der Vater der beste Kamerad. Vater und Sohn teilen ein Schicksal: Beide verlieren den gewohnten Kontakt zur wichtigsten Frau in ihrem Leben, die ihre Energie und Fürsorge in das neue Kind investiert. Je besser die Beziehung zwischen Vater und Sohn (oder auch Tochter) sich entwickelt, umso mehr kann die Frau und Mutter mit gutem Gewissen das machen, was sie macht, und umso einfacher wird es für die neue Familie sein, auf die Bedürfnisse aller einzugehen.

Ich hoffe, ihr beiden erinnert euch daran, wie radikal sich das Leben verändert hat, als ihr euren ersten Sohn bekommen habt. So ähnlich wird es jetzt für ihn. Viel von dem, was er sein ganzes Leben gewohnt war, wird anders. Lasst ihn sich dieser Revolution auf seine eigene Weise anpassen und in seinem eigenen Tempo, egal ob dieses begleitet wird von liebevollen und freudigen Gefühlen oder einer gewissen Reserviertheit. Durch das meiste von alldem muss er selbst gehen, aber er sollte es nicht allein tun. Er wird all seine Energie brauchen, der große Bruder zu werden, den ihr euch wünscht.

Gelingt das nicht, versucht er es vielleicht zu stark und verliert sich dabei selbst. In solchen Zeiten braucht er die Empathie, Fürsorge und Anerkennung seiner Eltern. Vielleicht hat euer Sohn so viel Vertrauen in seine Eltern, dass er das neue Kind mehr als euer Projekt ansieht und deshalb seine Energie für andere Sachen verwendet. Seht es als Kompliment und nicht als mangelndes Engagement. (Jesper Juul, derStandard.at, 25.11.2012)