Thorsten Schulten: "Ich sehe die Entwicklungen in Europa mit Sorge. Es wird massiv versucht, mit völlig falschen Vorstellungen Kollektivverträge zu zerstören."

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Altmodisch und ein Auslaufmodell? Innerhalb Europas weist die Bedeutung von Tarifverträgen sehr große Unterschiede auf, Zukunft ungewiss.

Verbreitung von Allgemeinverbindlicherklärungen in Europa

Grafik: Thorsten Schulten/WSI, 07/2012

Der Anteil der Beschäftigten, die durch einen Tarifvertrag geschützt ist, ist europaweit sehr unterschiedlich. Daraus ergibt sich die Frage, wie das mit dem Organisationsgrad der Gewerkschaften beziehungsweise mit dem Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) korreliert. Welche Auswirkungen hat die aktuelle EU-Krisenpolitik in Südeuropa, wie werden die Tarifsysteme umgebaut und mit welchen Folgen? Thorsten Schulten, Experte für Tarifpolitik in Europa, gibt im Interview mit derStandard.at Antworten.

 

derStandard.at: Worin liegt die Bedeutung der Tarifvertragspolitik in Europa?

Schulten: Je nach Land ist diese sehr unterschiedlich. Die Spannbreite reicht von 95 Prozent in Österreich über 80 bis 90 Prozent in einigen westeuropäischen Ländern, zu denen bislang auch Spanien, Portugal und Frankreich zählten. Die Tarifbindung in Deutschland liegt heute etwa bei 60 Prozent. Zu den Schlusslichtern gehören mit einem Anteil von zehn bis 20 Prozent viele mittel- und osteuropäische Länder. Ganz unten auf der Skala befindet sich das Baltikum.

Das Instrument Kollektivvertrag hat in den Ländern der alten EU eine deutlich höhere Bedeutung. Vielen mittel- und osteuropäischen Ländern ist es nach der Transformation 1989 nicht gelungen, bestimmte Strukturen aufzubauen. Eine Ausnahme bildet allerdings Slowenien. Das Land hat sich sehr stark am österreichischen System orientiert und aktuell ein relativ stabiles Kollektivvertragssystem aufgebaut.

derStandard.at: Vergleicht man Europa mit anderen Weltregionen, wie sieht es da aus?

Schulten: Sofern es überhaupt Kollektivvertragssysteme gibt, ist die Tarifbindung in allen anderen Weltregionen deutlich niedriger. Über den Daumen kann man sagen, dass in Europa - unabhängig von den nationalen Unterschieden - insgesamt zwei Drittel aller Beschäftigten einem Kollektivvertrag unterliegen. Zum Vergleich: In den USA liegt der Prozentsatz zwischen zehn und 15 Prozent, in Australien und Neuseeland nur geringfügig höher. Das europäische Sozialmodell kann also mit Fug und Recht als Besonderheit gesehen werden.

derStandard.at: Wie schaut es in den asiatischen Ländern aus?

Schulten: Sehr unterschiedlich. Nehmen wir zum Beispiel Japan: Hier werden Kollektivverträge fast ausschließlich auf Unternehmensebene und dezentral festgelegt. Selbiges Muster gilt für Korea und einige andere südostasiatischen Länder. In China gibt es außerdem so gut wie keine, in unserem Sinne, frei ausgehandelten Kollektivverträge.

derStandard.at: Wo liegen die Unterschiede zwischen zentralisiertem und dezentralisiertem Kollektivvertragssystem?

Schulten: Je stärker ein kollektivvertragliches System dezentralisiert ist, desto geringer ist die Tarifbindung. In dezentralen Systemen gibt es in der Regel bestimmte gut organisierte „Inseln", also beispielsweise Großunternehmen oder den öffentlichen Dienst. In vielen Bereichen jenseits dieser industriellen Kerne allerdings gibt es meistens keine Tarifsysteme.
Zentralisierte Flächentarifsysteme wie in Österreich oder Deutschland gelten für gesamte Branchen und nicht nur für einzelne Unternehmen. Das führt dazu, dass deutlich mehr Menschen erfasst werden und die Tarifbindung insgesamt deutlich höher ist.

derStandard.at: Wie korrelieren gewerkschaftlicher Organisationsgrad und Stärke der Kollektivvertragssysteme in Europa?

Schulten: Weist ein Land einen höheren Organisationsgrad auf, führt das dazu, dass man stärker Kollektivverträge durchsetzen kann und die Tarifbindung besser ist. Aber auch hier gibt es große Unterschiede: In den skandinavischen Ländern haben wir einen Organisationsgrad der Beschäftigten von 60 bis 70 Prozent, Österreich liegt bei 30 bis 40 Prozent, eine weitere Gruppe, unter ihnen Deutschland ist mittlerweile unter 20 Prozent gesunken. Unter zehn Prozent der Beschäftigten als Gewerkschaftsmitglieder verzeichnen wiederum viele osteuropäische Länder.

derStandard.at: Frankreich ist ein Sonderfall.

Schulten: Das Land hat traditionell keinen starken Organisationsgrad. Etwa acht Prozent der Beschäftigten sind Mitglied einer Gewerkschaft, trotzdem gelten die Kollektivverträge für über 90 Prozent der Beschäftigten. Das hängt damit zusammen, dass es hier von staatlicher und gesellschaftlicher Seite Instrumente, wie die Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE), gibt, um das Tarifvertragssystem zu unterstützen. Das heißt, der Tarifvertrag wird zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden abgeschlossen, automatisch für allgemein verbindlich erklärt wird und gilt damit für die gesamte Branche.

derStandard.at: Welcher Gedanke steckt dahinter?

Schulten: Solche Tarifverträge schaffen eine Art von Wettbewerbsordnung für die Unternehmen die Frage der Lohnkosten und der Lohnunterschiede ein Stück weit aus dem Wettbewerb herauszunehmen und stattdessen gleiche Bedingungen zu schaffen. Neben der Schutzfunktion für die Arbeitnehmer hat der Kollektivvertrag auch eine ökonomische Ordnungsfunktion.
derStandard.at: Österreich pflegt das Kammersystem.

Schulten: In Österreich besteht die Pflichtmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer, dadurch braucht man das Instrument der AVE für die meisten Branchen nicht. Die entsprechenden Fachausschüsse der Wirtschaftskammer handeln die Tarifverträge mit den Gewerkschaften aus. Das ist, wenn man so will, eine indirekte Form der Stützung des Kollektivvertragssystems. Dieses Kammersystem Österreichs ist weltweit ziemlich einmalig.

derStandard.at: Was hat sich bei den Kollektivverträgen in den südeuropäischen Schuldenländern geändert?

Schulten: Unter orthodoxen Ökonomen herrscht die Vorstellung, dass Kollektivverträge eine marktverzerrende Rolle spielten. Die Unternehmen bräuchten mehr Flexibilität, mehr Anpassungsspielraum, um wettbewerbsfähiger zu werden. Deswegen müsse man ihnen mehr Kompetenz geben, die Tarifverträge zu regeln. Genau das wird in den südeuropäischen Krisenländern exerziert. Gab es in diesen Ländern bislang relativ starke Flächentarifvertragsmodelle mit hoher Tarifbindung - Spanien über 90 Prozent, Portugal und Italien jeweils über 80 Prozent, Griechenland etwa bei 70 Prozent -, so steht heute im Rahmen der Troika-Programme ein grundlegender Umbau der Tarifvertragssysteme auf der Tagesordnung.

derStandard.at: Mit welchen Folgen?

Schulten: In einem aktuellen Bericht der Generaldirektion für Wirtschaftspolitik in der EU-Kommission wird die Senkung der Tarifbindung offen als notwendige Strukturreform bezeichnet. Den südeuropäischen Ländern wird empfohlen, mehr in Richtung Dezentralisierung zu gehen. Griechenland und Portugal wurde im Rahmen des Spar-Diktats bereits auferlegt, das Günstigkeitsprinzip aufzuheben. Mit anderen Worten: Ein Unternehmen kann den Tarifvertrag in jede Richtung ändern oder erweitern und nicht nur mehr in dem Sinne, dass er für den Arbeitnehmer günstiger ausfällt. Damit wird die Logik eines Branchentarifvertrags völlig unterlaufen. Immer weniger Menschen in Südeuropa werden heute überhaupt von einem Tarifvertrag erfasst und geschützt. In Spanien ist die Zahl der Betroffenen in den letzten ein, zwei Jahren deutlich gestiegen.

Es gibt eine ganze Reihe von Veränderungen, die dazu führen, dass die Tarifsysteme in diesen Ländern deutlich geschwächt und die Tarifbindungen stark zurückgehen werden. Ganz deutlich sieht man die Auswirkungen der Dezentralisierung bereits in Spanien, wo die Zahl derer, die nicht mehr durch eine Tarifbindung geschützt sind, in den letzten ein, zwei Jahren deutlich hoch gegangen ist. Bestimmte nationale Allianzen und konservative Kreise in der Wirtschaft hatten immer schon ein Interesse an dieser Situation und nutzen jetzt die Gunst der Stunde.

derStandard.at: Ist der Tarifvertrag ein Auslaufmodell?

Schulten: Ich sehe die Entwicklungen in Europa mit Sorge. Es wird massiv versucht, mit völlig falschen Vorstellungen Kollektivverträge zu zerstören. Es gibt Stimmen, die meinen, dies wäre besser für die Ökonomie, die Unternehmen und die Beschäftigung. Doch es gibt überhaupt keinen wirtschaftlichen Beleg dafür, dass Systeme, in denen keine Kollektivverträge vorherrschen, ökonomisch erfolgreicher wären. Das Gegenteil ist der Fall: Wirtschaftlich erfolgreiche Länder, wie beispielsweise Österreich, Deutschland und die skandinavischen Länder, weisen eine relativ starke Tarifvertragsbindung auf.

derStandard.at: Wie könnte es in Zukunft aussehen?

Schulten: Vor allem in Deutschland ist Tarifvertragsbindung in den letzten Jahrzehnten sukzessive zurückgegangen. Ich denke, die Faktoren, die Tarifvertragssysteme stützen, gehören gestärkt. Zum einen müssen sich die Gewerkschaften überlegen, wie sie für neue Mitglieder wieder attraktiver werden. Zum anderen muss sich der Staat überlegen, wie wichtig ihm die Gestaltung eines Tarifvertrags ist und wie er diese stützen kann. In Deutschland wird das Instrument der AVE nur sehr bedingt genutzt. Hier wäre ein wichtiger Hebel, dass der Staat Verantwortung übernimmt. Ein gutes Instrument wäre zum Beispiel, dass der Staat, Aufträge an Unternehmen an die Einhaltung von Tarifverträgen koppelt. Den Österreichern mit ihrem einmaligen Kammersystem kann ich nur raten: Verteidigt es, so gut ihr könnt. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 27.11.2012)