"Ich würde sagen, dass zumindest zwei Drittel der Richter dem Medientenor folgen - im Strafmaß, wohlgemerkt": Hans Mathias Kepplinger

Foto: Romeo Felsenreich

Gerichtsverfahren sind zunehmend einer "exzessiven Öffentlichkeit" ausgesetzt, die für die Betroffenen emotional verheerende Wirkungen haben kann, sagt Kommunikationswissenschafter Hans Mathias Kepplinger von der Universität Mainz. Es brauche strengere Regeln für StaatsanwältInnen - und eine Diskussion darüber, was gute Prozessberichterstattung sei, erklärt Kepplinger im Gespräch mit derStandard.at.

derStandard.at: Inwiefern beeinflussen Medien die Justiz?

Kepplinger: Man muss unterscheiden zwischen dem Einfluss auf das Urteil, und dem Einfluss auf das Strafmaß. Fast alle Richter würden bestreiten, dass die Medien einen Einfluss auf das Urteil haben, aber mindestens die Hälfte sagt, dass es einen Einfluss auf das Strafmaß gibt. Beim Strafmaß gibt es sehr viel Ermessensspielraum, während es beim Urteil ja nur um die Frage geht: Schuldig oder unschuldig? Und die Antwort auf diese Frage hängt wesentlich von der Beweislage ab, da bleibt wenig Spielraum für Medieneffekte. Wenn es aber um das Strafmaß geht, nutzen Richter den Ermessensspielraum aus - also die Länge einer Strafe oder die Gewährung einer Bewährungsstrafe oder die Länge einer Sicherungsverwahrung. Und da gibt es Einfluss durch die Medien.

derStandard.at: Wie rechtfertigen RichterInnen diesen Einfluss?

Kepplinger: Sie begründen ihn mit der Wahrung des Rechtsfriedens. Rechtsfriede heißt, einen Kompromiss zu finden zwischen der Rechtsauffassung der Juristen und dem Rechtsverständnis der Bevölkerung. Sie glauben, dass sie dem Rechtsverständnis der Bevölkerung entgegenkommen müssen. Und aus Sicht der Richter und Staatsanwälte zeigt sich dieses Rechtsverständnis in der Berichterstattung der Medien. 

derStandard.at:  Also setzt man die öffentliche Meinung mit der veröffentlichten Meinung gleich?

Kepplinger: Ja, das ist der entscheidende Punkt. Und das trifft nicht nur auf die spektakulären, landesweiten Prozesse zu, sondern sogar noch häufiger auf die unbeachteten Prozesse vor Bezirksgerichten - weil dort die Regionalmedien in ihrem Einflussbereich eine mindestens so wichtige Rolle spielen wie die nationalen Medien auf Bundesebene. Das ist unter Umständen sogar dramatischer - weil in einer kleinen Stadt jeder jeden kennt. Wenn man dann Hans B. schreibt, dann weiß jeder, wer das ist. Alle Beteiligten erleben dann einen starken sozialen Druck. 

derStandard.at: Sie meinen, die RichterInnen lassen sich sozusagen von der Meinung des Boulevards hertreiben. Gibt es auch den umgekehrten Einfluss - dass also RichterInnen verleitet sind, ausdrücklich gegen den medialen Druck zu urteilen?

Kepplinger: Das hängt vom Charakter des Richters ab. Es gibt Richter, die aus Trotz gegen die veröffentlichte Meinung entscheiden. Aber nach all den Daten, die ich kenne, würde ich sagen, dass zumindest zwei Drittel der Richter dem Medientenor folgen - im Strafmaß, wohlgemerkt. 

derStandard.at: Wie gut sind RichterInnen auf den medialen Druck vorbereitet?

Kepplinger: Richter sind zumindest in Deutschland sehr selbstbewusste Persönlichkeiten, meistens Herren, die glauben, dass sie in ihrer Urteilsfindung von der Berichterstattung unabhängig sind. Da lassen sie nicht mit sich diskutieren. Bei den Staatsanwälten ist das anders: Sie sehen den Einfluss der Medien, und versuchen zunehmend, die Medien zu instrumentalisieren, um ihre Chancen im Prozess zu verbessern. Schon im Ermittlungsverfahren, das ja nicht öffentlich ist, versuchen sie, über befreundete Journalisten eine Stimmung zu schaffen, die dann im öffentlichen Verfahren für sie günstig ist. Wobei die Staatsanwälte bestreiten, dass sie Einfluss auf das Verfahren nehmen wollen - sie sagen, sie müssten sich ja gegen die Verteidiger wehren.

derStandard.at: Wie lässt sich verhindern, dass in diesem öffentlichen Wettstreit von Anklage und Verteidigung die Beschuldigten unter die Räder kommen?

Kepplinger: Das ist das große Problem. Wir hatten ja bis ins 19. Jahrhundert den Inquisitionsprozess, und der war nicht  öffentlich. Die Forderung nach Öffentlichkeit wurde mit drei Argumenten untermauert: Erstens mit dem Gedanken, dass es eine präventive Wirkung hat, wenn man das Verfahren öffentlich vorführt - das glaubt heute keiner mehr. Zweitens mit dem Schutz des Angeklagten - auch der ist heute zu bezweifeln, denn viele Angeklagte nehmen durch einen medienöffentlichen Prozess Schaden. Und drittens mit der Wahrheitsfindung - aber auch die leidet durch diese exzessive Öffentlichkeit.

derStandard.at: Inwiefern leidet die Wahrheitsfindung unter dem medialen Druck?

Kepplinger: Die Bedingungen, unter denen Zeugen aussagen, ändern sich. Es gibt Zeugen, die geradezu aufblühen, wenn sie die Möglichkeit sehen, in die Medien zu kommen. Sie formulieren bestimmte Dinge dann vielleicht drastischer, als sie das sonst tun würden. Viele Zeugen wollen wiederum auf gar keinen Fall in die Medien kommen. Die sagen dann: "Um Gottes Willen, ich will da nicht hineingezogen werden, ich sage lieber nichts, sonst ist meine Zukunft ist ruiniert." Diese Öffentlichkeit ändert also die Welt der Tatsachen, und sie ändert damit auch die Chancen und Risken der Angeklagten. 

derStandard.at: Wie würden Sie diesen Verzerrungseffekt minimieren, ohne gleichzeitig die Medienfreiheit einzuschränken?

Kepplinger: Man muss die Aktivitäten der Staatsanwaltschaften einschränken. Ich halte es für nicht akzeptabel, dass Staatsanwälte im Vorfeld des Verfahrens Informationen weitergeben. Die Medienfreiheit darf man nicht einschränken - es sei denn, es handelt sich wirklich um reine Verdachtsberichterstattung, wo es überhaupt keine vernünftige Evidenz gibt. Es muss im Journalismus eine Diskussion darüber geben, was überhaupt gute Prozessberichterstattung ist. Verdachtsberichterstattung ist für den Betroffenen emotional verheerend. Es werden Dinge nachgesagt, die sich ex post als falsch herausstellen. Der Betroffene hat aber keine Chance, das richtig zu stellen. In den Köpfen des Publikums mischen sich dann die falschen Vorwürfe mit den richtigen, man kann das am Ende nicht mehr richtig unterscheiden. 

derStandard.at: Könnte eine aufmerksame Öffentlichkeit nicht auch den positiven Effekt haben, dass RichterInnen besonders korrekt arbeiten, weil ihnen ständig jemand "auf die Finger schaut"?

Kepplinger: Ich glaube eher, es werden dann langfristig jene Richter und Staatsanwälte, die öffentlichkeitswirksam auftreten können, die besten Karrierechancen haben. Die, die in den Medien gut ankommen, werden erfolgreich sein. 

derStandard.at: In Strafverfahren gegen Ex-Politiker herrscht auf der einen Seite die Angst vor medialer Vorverurteilung, auf der anderen Seite gibt es die Sorge, dass sich diese Beschuldigten ihre guten Beziehungen zu Politik und Justiz zunutze machen könnten, um sich einer Strafverfolgung zu entziehen. Wo stehen die Medien in diesem Dilemma?

Kepplinger: Bei den Staatsanwälten resultiert das Problem ja daraus, dass sie abhängige Beamte sind. Politische Akteure können Staatsanwälte stillstellen oder anstacheln. Und da hilft eigentlich nur Druck nach außen. Ich weiß von einem politischen Skandal, der von einem Staatsanwalt ermittelt wurde - und der Generalstaatsanwalt hat versucht, diese Ermittlungen zu stoppen. Dieser Fall ist nur dadurch ins Laufen gekommen, dass der Staatsanwalt die Akten auf der Herrentoilette einer Autobahntankstelle einem ZDF- Journalisten übergeben hat. Das war eine Notwehrmaßnahme des Staatsanwalts. Ein untragbarer Zustand.

derStandard.at: Wie stehen Sie zu Liveberichten aus dem Gerichtssaal?

Kepplinger: Ich bin sehr skeptisch, was Live-Übertragungen betrifft. In dem Moment, wo sie vor der Kamera stehen, sprechen die Menschen anders als nicht öffentlich. Und die Chancen der Betroffenen, die Menschen für sich einzunehmen oder gegen sich aufzubringen, sind abhängig davon, was für eine Persönlichkeit man ist, wie man sich in Szene setzen kann, welcher Schicht man angehört. Die Laien, die das zuhause verfolgen, reagieren dann aufgrund ihrer Empfindung. 

derStandard.at: Würden Sie Liveticker mit Liveübertragung im Fernsehen gleichsetzen?

Kepplinger: Nein, aus meiner Sicht sind sie weitaus weniger riskant als TV-Berichterstattungen. Weil wir gelernt haben, dass es eine gewisse Distanz gibt zwischen dem, was gesagt wird, und worüber etwas gesagt wird. Während wir beim Fernsehen ja einer Illusion unterliegen. Wir erkennen ja nicht, dass das, was man da sieht, ohne Kamera ja gar nicht da wäre. Es gibt Politiker, die nur lächeln, wenn das rote Licht der Kamera leuchtet. Das heißt: Die Existenz der Kamera ändert das Verhalten der Menschen. Joschka Fischer beispielsweise wurde von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen für einen ausgesprochen angenehmen, netten Menschen gehalten. Wenn Sie in Berlin mit Korrespondenten über Joschka Fischer reden, dann schütteln die alle nur den Kopf. Es gibt kaum einen, der den leiden kann. Aber im Fernsehen wirkt er nicht so. Das Fernsehen schafft Illusion - und das gilt auch für Gerichtsverfahren.

derStandard.at: Wenn die Öffentlichkeit so oft irrt - was können wir dann daraus schließen, wenn RichterInnen ihr Urteil nach der öffentlichen Meinung richten?

Kepplinger: Sie richten sich ja nur beim Strafmaß nach dieser Meinung. Und hier kommen zwei Dinge zusammen: Erstens handelt niemand von uns gerne ständig gegen den allgemeinen Meinungstenor. Zweitens verweisen Richter mit Recht darauf, dass sie eine Brücke schlagen müssen zwischen dem allgemeinen Rechtsempfinden und dem, was die Gesetze sagen. Der Richter muss der Bevölkerungsmeinung entgegen kommen, ohne dass er das Recht beugt. 

derStandard.at: Die sogenannte Bevölkerungsmeinung ist ja eine Mehrheitsmeinung. Wie kommen da die Minderheiten zu ihrem Recht?

Kepplinger: Ja, das ist immer die Gefahr - je mehr Öffentlichkeit ich habe, desto größer ist die Gefahr, dass die Minderheit einen Nachteil hat. (Maria Sterkl, derStandard.at, 22.11.2012)