Walter Geyer: "Das Problem ist, dass sich Korruption ausbreitet und, so sie nicht auffliegt, zum Alltag wird. "

Foto: STANDARD/Hendrich

STANDARD: An Ihrem Türschild sind fixe Buchstaben?

Geyer: Ja, das sind gedruckte Schilder. Wieso fragen Sie?

STANDARD: Weil im Grauen Haus einst ein Türschild-Buchstabendieb umging, Ihnen nahm er das W.

Geyer: Weiß ich gar nicht mehr. Aber ich gehe jetzt eh in Pension.

STANDARD: Sie wollen Ruhe geben als Pensionist?

Geyer: Ja. Und ich beabsichtige nicht, der Besserwisser zu sein, der von außen alles kommentiert.

STANDARD: Sie sagen, niemand komme korrupt auf die Welt. Wie wird man korrupt?

Geyer: Niemand kommt korrupt auf die Welt, aber jeder Mensch wird mit der Veranlagung dazu geboren, weil im Menschen alle potenziellen Eigenschaften stecken. Ob sie akut werden, hängt von den äußeren Umständen ab. Korrumpierbarkeit kann sehr schleichend gehen, mit Kleinigkeiten beginnen, die die Korruptionsspirale in Gang setzen. Man nimmt immer großzügigere Einladungen an, gewöhnt sich daran - und auch das Unrechtsbewusstsein verschwindet schleichend. Das Problem ist, dass sich Korruption ausbreitet und, so sie nicht auffliegt, zum Alltag wird.

STANDARD: Korruption ist ansteckend?

Geyer: Korruption breitet sich gasförmig aus. Und Korruption stinkt.

STANDARD: Die Versuchung dazu gibt es überall?

Geyer: Das glaube ich nicht. Sie ist dort am stärksten, wo es um viel Geld geht, weil das Motiv für Korruption die Gier ist. Gier nach Geld, sozialer Anerkennung, sozialem Status - Sehnsüchte, die in jedem potenziell vorhanden sind und unterschiedlich ausgelebt werden. Die sensiblen Bereiche sind die Schnittstellen zwischen Wirtschaft und Politik, Auftragsvergaben, Beschaffungswesen. Alle behördlichen Entscheidungen, die für den Betroffenen bedeutsam sind, sein Leben und Schicksal beeinflussen.

STANDARD: Wie bei der Buwog-Privatisierung rund um KH Grasser.

Geyer: Zu anhängigen Causen sage ich nichts. Natürlich sind Privatisierungen sensibel, aber auch Aufenthaltstitel, denken Sie nur an die Visa-Affäre.

STANDARD: Sie selbst wurden wirklich nie in Versuchung geführt?

Geyer: Nie. Es ist nie jemand an mich herangetreten.

STANDARD: Sie haben die Gier erwähnt, die ist dem Menschen aber doch immanent.

Geyer: Ja, ich bin auch überzeugt, dass sich alle Straftaten auf menschliche Kerneigenschaften zurückführen lassen: auf Aggression bei Delikten gegen Leib und Leben, auf die Gier bei Vermögensdelikten.

STANDARD: Früher ging Bestechung per Übergabe von Kuverts, heute über Beraterhonorare?

Geyer: So ist es, und die Beträge steigen in Millionenhöhe. Auch die Möglichkeiten der Verschleierung haben zugenommen: Man kann per Internet Konten in der Karibik eröffnen, Briefkasten-, Offshore-Firmen, intransparente Treuhandkonstruktionen wählen: alles kein Problem. Aber die vergangenen fünfzig Jahre waren eben sehr geprägt von Konsum, Haben-Wollen, Besitz, Erfolg, Reichtum. Das sind die höchsten Werte. Dabei wissen wir doch: Es sind gar nicht die Gesättigten und die Fetten, die glücklich sind.

STANDARD: (Kaffee wird serviert.) Ist der Kaffee von einer Ihrer eigenen Espressomaschinen?

Geyer: Nein.

STANDARD: Warum sammeln Sie ausgerechnet Kaffeemaschinen?

Geyer: Ich mag guten Kaffee und mir gefallen technische Geräte.

STANDARD: Apropos. Ihr Vater war Techniker und Unternehmer, Ihre Mutter Schauspielerin. Sie haben nur aus Verlegenheit Jus studiert, wollten eigentlich Künstler werden. Was wollten Sie denn machen?

Geyer: Auf der Kunsthochschule Malerei studieren. Aber ich war dann feig, wollte doch ein fixes Einkommen. Die Frist für Medizin habe ich versäumt, also habe ich Jus inskribiert, die erste Prüfung interessanterweise bestanden und das Studium mit minimalem Aufwand flott absolviert...

STANDARD: Sicher waren Sie in so genannten Paukerkursen.

Geyer: (lacht) Genau.

STANDARD: Sie sind im Lycée zur Schule gegangen?

Geyer: Ich war in sehr vielen Schulen.

STANDARD: Wie vielen genau?

Geyer: Sage ich nicht. Maturiert habe ich, wenn ich mich richtig erinnere, in der Albertgasse. Nachdem ich vom Gymnasium davor in der 7. geflogen bin...

STANDARD: ...weil Sie zu Ihrer Freundin in Paris ausgerissen sind.

Geyer: (lacht) Ja, ich war ziemlich zäh zu erziehen. Meine Eltern haben mich aber in Paris ausfindig gemacht und wieder abgeholt.

STANDARD: Damals hatten Sie lange Haare und mussten dem Direktor davonlaufen, der mit der Schere hinter Ihnen her war?

Geyer: Ja. Das wird ja fast eine Therapiestunde. Aber wenn wir schon dabei sind: Ich ging dann zum Bundesheer, und war da zu einem ganz normalen Lebensrhythmus gezwungen. Sechs Uhr aufstehen und den ganzen Tag etwas tun, was ich nicht tun wollte. Sie dürfen nicht vergessen, das war in der Hippiezeit: Wir haben alle davon geträumt, nicht so zu werden wie unsere Eltern, keinen normalen Beruf zu ergreifen, wir haben von der freien Liebe geträumt. In der Phase war das Heer nicht schlecht: Ich habe gelernt, dass das Leben fad und unangenehm sein kann.

STANDARD: Aber ganz angepasst haben Sie sich nie. Sie sind berühmt dafür, immer in Jeans und Sakko aufzutreten, waren 1986 bis 1988 für die Grünen im Parlament, begehren seit Jahr und Tag gegen das Weisungsrecht des Ministers gegenüber Staatsanwälten auf.

Geyer: Ja, ich war der erste in der Justiz, der Jeans getragen hat, damals trugen alle Anzug. Also, in meiner Einstellung habe ich mich nie angepasst, in meiner Lebensführung in der Justiz schon.

STANDARD: Hat man sich über Sie und die Jeans wirklich aufgeregt?

Geyer: Ich war ein Tuschelthema.

STANDARD: Sie arbeiteten 1976 unter Justizminister Christian Broda ein Jahr im Ministerium. Es sieht so aus, als wäre Österreich heute korrupter als damals, Stichwort Mensdorff, Strasser, Grasser, Telekom. Sie bestätigen das nicht, weil die Dunkelziffer bei Korruption bei 98 Prozent liege. Mir fällt auf, dass Fälle wie Udo Proksch/Lucona, AKH, Noricum-Waffendeals vergessen werden, Sie selbst haben die finanzstrafrechtlichen Ermittlungen gegen Hannes Androsch begonnen.

Geyer: Das stimmt. Aber es sind eben immer die Fälle am bedeutendsten, die gerade auf dem Tisch liegen.

STANDARD: Heute sagt man, alle sind korrupt, wir trauen allen alles zu. Ist diese Erwartungshaltung nicht gefährlich für eine Gesellschaft?

Geyer: Ja. Da wird aber schon auch viel verallgemeinert und übertrieben. Nicht jeder ist korrupt, nicht jeder geht stehlen. Diese Übertreibung, dass alles korrupt ist, erschwert die Grenzziehung zu dem, was wirklich korrupt ist.

STANDARD: Im strafrechtlichen Sinne ist das ja relativ wenig.

Geyer: Ja, es gibt viel Ungutes und Grausliches in der Gesellschaft, was gemeinhin als korrupt gilt und abgestellt gehört, was aber nicht strafbar ist.

STANDARD: Das neue Transparenzpaket, das die Regierung umgesetzt hat, mitsamt Vorschriften für Parteienfinanzierung und Lobbyisten verbessert die Rechtslage?

Geyer: Es ist ein wesentlicher Fortschritt. Wobei ich Anlassgesetzgebung - es geschieht etwas, und alle rufen nach einem neuen Tatbestand im Strafgesetzbuch - nicht goutiere. Eine Gesellschaft sollte schon auch moralisches Selbstverständnis haben und sagen: Das tue ich nicht, obwohl es noch nicht strafbar ist.

STANDARD: Ethik und Moral lassen sich doch sowieso nicht erzwingen.

Geyer: Nein, Moral kann man nicht erzwingen.

STANDARD: Was halten Sie denn für unmoralisch, aber nicht strafbar?

Geyer: Das sage ich Ihnen nicht. Für mich als Staatsanwalt gibt es nur schwarz oder weiß, strafbar oder nicht strafbar. Ist etwas nicht strafbar, kommentiere ich es nicht.

STANDARD: Weil wir vorhin von Broda sprachen: Gerade unter ihm war die Justiz doch besonders politisch?

Geyer: Der Begriff Eingriffsjustiz, der später aufkam, passt sehr gut auf Broda. Er hatte zwei Seiten: die Reformerseite, vor der ich den Hut ziehe, und die Interveniererseite, er hat Verfahren gelenkt. Wobei auch damals die Zahl schriftlicher Weisungen überschaubar war. Die Justiz wurde subtiler beeinflusst. Wir in der Staatsanwaltschaft Wien nannten das intern so: „Über Ersuchen des Ministeriums wird die Sache zu Tode erhoben."

STANDARD: Sie bekamen Weisung zu ermitteln, bis eingestellt wurde?

Geyer: Bis die Causa vergessen und eingestellt wurde. Ich selbst hatte damals eine spektakuläre Strafsache, in der ich mehr als 40 Berichte verfasste. So oft ging die Causa ins Ministerium und wieder zurück. Später habe ich erfahren, dass es eine persönliche Verbindung eines Beteiligten zu Broda gegeben hat. Als er nicht mehr im Amt war, landete die Sache sehr rasch vor Gericht.

STANDARD: Sie hatten damals auf Ihrer Bürotür ein Pickerl: „I love Weisungen".

Geyer: (lacht) Das weiß ich gar nicht mehr. Aber es herrschte damals schon eine Aufbruchstimmung unter
kritischen Staatsanwälten, dass das mit dem Weisungsrecht so nicht mehr geht.

STANDARD: Das Weisungsrecht gibt es freilich noch immer.

Geyer: Aber entschärft, denn Weisungen sind streng geregelt und daher selten. Das Grundproblem bleibt: Es reicht schon der Anschein, dass der Minister eine Weisung erteilen könnte.

STANDARD: Wie oft haben Sie Weisungen bekommen?

Geyer: Sehr selten. Das Problem in der Justiz ist ein anderes, und zwar die Verschiebung vom unabhängigen Richter zum Staatsanwalt, der gegenüber einem Politiker weisungsgebunden ist. Denn heute kommen von allen angezeigten Fällen nur noch 25 Prozent vor Gericht; 75 Prozent entscheidet der Staatsanwalt. 50 Prozent der Verfahren stellt er ein, 25 Prozent werden durch Diversion erledigt, oder etwa weil die Leute nicht greifbar sind.

STANDARD: Nicht ideal.

Geyer: Nein, problematisch wegen des Weisungsrechts.

STANDARD: Das schlechte Image der Justiz hängt auch an den langen Verfahren wie Meinl, Grasser, Immofinanz, Kommunalkredit...

Geyer: Naja, bei Zivilverfahren steht die österreichische Justiz im internationalen Vergleich im Spitzenfeld. Unser Problem sind die Wirtschaftsverfahren, die lange dauern, zahlenmäßig aber sehr wenige sind. Mit denen stehen wir in der Auslage, an ihnen bildet sich die öffentliche Meinung. Die Vorstellung, eine komplizierte Korruptionsstrafsache ließe sich in einem Jahr abhandeln, ist naiv. Wirtschaftssachen sind keine Ladendiebstähle. Wer den Rechtsstaat Ernst nimmt, kann in solchen Fällen keine raschen Prozesse erwarten. Außer in China. Die Justiz strengt sich da sehr an, aber die Anstrengungen lassen sich schwer nachweisen. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Das ausführliche Ermittlungsverfahren gegen einen österreichischen Ex-EU-Abgeordneten (Ernst Strasser; Anm.) hat etwas mehr als ein Jahr gedauert. Auch andere Länder hatten Parallelfälle zu ermitteln; aber keines war so schnell wie wir.

STANDARD: Sie sagten einmal, in Österreich sei politische Verantwortung ein Fremdwort. Was war denn das Wichtigste, das Sie selbst in der Politik gelernt haben?

Geyer: Dass Parteipolitik nicht mein Ding ist. Diese Flügelkämpfe, die Vorgabe, dass man immer in eine Richtung marschieren muss: Da pass' ich nicht hinein.

STANDARD: Sie sollten 1988 dann Klubobmann der Grünen werden, aber da sind Sie lieber zurück in die Justiz gegangen. Warum?

Geyer: Weil ich nicht Frontmann sein wollte. Aber das ist 25 Jahre her. Alles Geschichte.

STANDARD: Berühmt wurden Sie im Parlament durch Ihre neunstündige Rede über das Dampfkesselemissionsgesetz. Da haben Sie sich nicht ein Mal wiederholt?

Geyer: Ich habe über alles Mögliche gesprochen, weil mit dem Waldsterben, um das es ging, hängt ja alles irgendwie zusammen. Es war nicht die beste Rede meines Lebens, aber die längste.

STANDARD: Der "Falter" schreibt Ihnen "romantisch anmutenden Gerechtigkeitssinn" zu. Haben Sie den?

Geyer: Mein Gerechtigkeitssinn ist jedenfalls immer noch sehr ausgeprägt.

STANDARD: Wie kann man Gerechtigkeit beschreiben?

Geyer: Überhaupt nicht.

STANDARD: Worum geht's im Leben?

Geyer: Was der Sinn des Lebens ist? Das, was du mit deinem Leben machst. (Renate Graber, DER STANDARD, 24.11./25.11.2012)