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Wonach fühlt man sich kurz nach dem Heulen eines Bombenalarms? Sushi-Essen, Kaffeetrinken, einen Joint rauchen, oder mit dem Hund spazieren gehen? An der Oberfläche ging das Alltagsleben für viele Israelis in Tel Aviv auch letzte Woche weiter, trotz den 1500 israelischen Angriffen auf den Gazastreifen und ebenso vielen Raketen, die von dort nach Israel geschossen wurden.

Nur wenige der vielen Angriffe zielten auf die Stadt Tel Aviv ab. Doch unter der Oberfläche stand den Menschen dort trotz augenscheinlicher Normalität Angst und Unsicherheit ins Gesicht geschrieben. So überrascht es auch nicht, dass eine Stunde nach dem Heulen der Alarmsirenen 25 Israelis ihren Weg in einen Workshop der besonderen Art gefunden hatten: zwei Tage Bewegung und Tanz unter dem Titel „Elements of Change", mit dem ehemaligen israelischen Soldaten Ben Yeger, dem ein Einsatz als Soldat im Libanon 1983 die Lust auf Gewalt genommen hatte. Jetzt begegnet er Konflikten auf gewaltlosem Weg, bevorzugt tanzend.

"Allein die Tatsache, dass ihr alle trotz des Kriegs gekommen seid, zeigt schon, dass wir hier etwas wichtiges und machtvolles tun", sagte der 48-jährige Ben Yeger, nachdem sich die Gruppe eine halbe Stunde lang frei zu Entspannungsmusik durch den Raum bewegt hatte. Die Brücke zwischen Workshop und der politischen Situation war von vornherein gegeben: die Turnhalle ist ein altes umgebautes Gebäude des israelischen Militärs. Direkt daneben, geschützt durch Stacheldraht, befand sich das Medienbüro der Armee, das in diesen Tagen beinahe im Minutentakt Bilder, Statistiken und Meldungen über Israels Operation im Gazastreifen veröffentlicht hat. Vor diesen Bildern wollten die 25 Israelis in Stück weit fliehen, oder besser gesagt, mit ihnen umgehen lernen.

Flucht nach innen

"Zuerst wollte ich nicht kommen. Ich wollte zu Demonstrationen gehen. Doch dann wurde mir klar, dass ich zuerst in mir selbst damit umgehen muss, bevor ich im Protest irgendwelche Slogans rufe", sagte eine der Teilnehmerinnen, die lieber Anonym bleiben möchte. Eigentlich hätte sie einen von ihr produzierten politischen Film in derselben Woche auf die israelische Sperrmauer projizieren sollen. Ein Film über Israels Besatzung des Westjordanlandes. Doch die Vorstellung wurde abgesagt.

Auch den meisten anderen Frauen und Männern schien der Workshop eine persönliche Last abzunehmen. Die Last, alleine mit dem Morden von Zivilisten in Gaza und Israel umzugehen, und die eigene Verantwortung als israelischer Staatsbürger darin zu sehen. Sie alle waren früher Soldaten. Viele haben Freunde, die als Reservisten an die Gaza-Grenze gerufen wurden, noch bevor der jüngste Waffenstillstand die Eskalation abkühlen ließ. Anstatt zu demonstrieren, haben die Israelis im Workshop also mehrere Stunden lang getanzt, meditiert, und in Gruppen über die Zukunft ihres Lebens in Israel reflektiert.

"Schreibt einen Brief aus der Sicht eures Urenkels. Wie wird die Zukunft aussehen, und was haben wir heute in unserer Zeit geleistet?" meinte Yeger bei einer Übung. An Zukunftsvisionen mangle es vielen in Israel-Palästina. "Die Mehrheit der Menschen in Israel machen sich keine Gedankendarüber, was ihr heutiges Tun für Auswirkungen in 30 Jahren haben könnte", sagte er im Gespräch nach dem Workshop. Ein Ziel der Übungen seines Workshops sei, Veränderung in und zwischen Menschen zu bewirken, was letztlich auch zu gesellschaftlicher Veränderung führen kann. Es geht jedoch zuerst um eine Demonstration nach innen, anstatt wie üblich nach außen.

Vom Soldaten zum Therapeuten

Bis zu seinem achten Lebensjahr habe er gar nicht gewusst, dass er jüdisch ist. Auch nicht, was das eigentlich bedeutet, sagt Yeger, der in England aufgewachsen ist. Später ist er mit seiner Familie in einen Kibbutz in Israel gezogen. Seine Mutter ist jedoch wieder zurück nach England. "Die Kibbutzim waren damals regelrechte Schmieden für Elitesoldaten", sagt Yeger, der 1983 als Teil einer Kampfeinheit der israelischen Armee beigetreten ist. Ein Jahr nach Israels Invasion im Libanon war er damit einer der letzten Soldaten, die den Südlibanon verlassen hatten. Die Erlebnisse als Soldat haben ihn das Gewehr für immer ablegen lassen. "Ich war ein guter Soldat. Nur habe ich mich immer mehr gefragt, was zum Teufel wir hier eigentlich machen?", sagt er. "Es hieß ständig, wir suchen irgendwelche Terroristen in Dörfern. Sogar als die israelische Armee abgezogen wurden, haben wir beim Hinausgehen noch welche mitgenommen." Einen ganzen Tag sei er neben einem angeblichen "Terroristen" als Wache gesessen, während dieser sich mit Verbundenen Händen und Augen vor Angst regelmäßig angepinkelt hat. "Ich bin zum Kommandanten gegangen und habe gesagt, ich kann das nicht. Es ist vorbei."

Noch lange danach habe er Angst gehabt, offen Israel zu kritisieren. Aus Respekt vor seinem Vater, der ein wahrer Patriot gewesen sei. Durch Zufall habe er erst einige Zeit später Aktivisten kennengelernt und war dann auch oft im von Israel besetzten Westjordanland. Dort habe er erkannt, dass man stolz auf Israel sein kann, auch wenn man die Politik dahinter gleichzeitig ablehnt. In der Drama- und Bewegungstherapie habe er letztlich seinen eigenen Zugang zur Konflikttransformation gefunden. Die jahrelange Erfahrung habe ihm gezeigt: oft muss man erst einen Prozess in sich selbst auslösen, bevor man Andere von einer Sache überzeugen kann.

Die Israelis im Workshop vom letzten Wochenende wurden nach stundenlangem Tanz und Gesprächen unsanft wieder zurück in die Realität geholt. Denn während sie sich zu positiver Musik gerade noch die letzten Sorgen von der Seele schüttelten, heulte draußen schon wieder die Sirene. Doch als ob sie es vorher vereinbart hatten, haben sie einfach weiter getanzt. (Andreas Hackl, derStandard.at, 25.11.2012)