Caja Thimm bei der Hedy Lamarr Lecture "Der Online-Citoyen: Mediatisierung, Demokratie und Social Media".

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Medienwissenschaftlerin Caja Thimm glaubt, dass es auch in Zukunft Printjournalisten geben wird, die Digital Natives zu den Zeitungsmarken zurückfinden und der Kampf um den Fernsehbildschirm die nächste große Medienschlacht einläuten wird. Was die Frankfurterin zu diesen Annahmen bringt, erzählte sie Tatjana Rauth im Interview.

derStandard.at: Das Zeitungssterben hat Deutschland erreicht. Verlieren Massenmedien ihre Existenzberechtigung im Übergang vom industriellen ins digitale Zeitalter?

Caja Thimm: Ganz ehrlich glaube ich, die betroffenen Medien haben Fehler gemacht. Es gibt ja Printzeitungen wie "Die Zeit", deren Auflage steigt. Sie haben relativ früh in Richtung Hintergrundinformation umgestellt. "Spiegel" und "Focus" haben zwar Auflageneinbußen, aber ich glaube, sie werden sich erholen. Die "Financial Times" hingegen hat eine ganz kleine segmentierte Zielgruppe bedient, die ein bisschen aus den Augen verloren und auch der Onlineauftritt war nicht kompatibel mit dem, was ich mir von der "FTD" erwartet hätte. 

derStandard.at: Auch die "Frankfurter Rundschau" wird eingestellt.

Thimm: Das mit der "Frankfurter Rundschau" ist schon bitter. Ich bin ja Frankfurterin. Sie haben ihr Kolorit verloren, sich in der Medienwelt verhaspelt, keine Profile mehr gehabt. Schade, schade.

derStandard.at: Wenn sie lokaler agiert hätten, wäre es dann weiter gegangen?

Thimm: Knackiger hätten sie sein müssen. Linker.

derStandard.at: Zeitungen sind einst stark durch die bürgerliche Öffentlichkeit gefördert worden und tragen noch heute ihre gemeinschaftsbildende Funktion vor sich her. Braucht es das in Zeiten des Internet überhaupt noch? Sind Zeitungen wirklich unverzichtbar?

Thimm: In Bezug auf die Darreichungsform wissen wir nicht, wie lange wir noch Papier haben werden. Aber das Bedürfnis nach dem Typus Zeitung mit recherchierten, fundierten und geprüften Informationen steigt. In der Netzgemeinde gibt es Watchdog-Themen, aber alle Analysen zeigen, dass in den Medien die sekundären Diskurse passieren. Das Agenda-Setting geht ganz häufig immer noch von den Massenmedien aus, übrigens auch vom Fernsehen, nicht nur von den Zeitungen. Das Hauptproblem ist die Finanzierung, nicht die Textsorten oder die Zeitung.

derStandard.at: In freier Wildbahn kann man junge Menschen oft nur mehr mobil beim Nachrichtenkonsum beobachten. Welche Konzepte greifen da?

Thimm: Die Facebook-Zeitung gibt es schon, das ist die größte Klatschbörse aller Zeiten. Da brauche ich keine "Bunte" oder "Gala" mehr und die werden das noch vermehrt machen. Facebook wird auch, ähnlich Google, Fernsehen anbieten. Das habe ich in den USA schon gesehen. Das ist eine große Bedrohung für die Fernsehanstalten.

derStandard.at: Warum?

Thimm: Die Endgeräte, die Fernseher als solche, werden wichtiger, weil die Rechte an den Zugängen, zum Beispiel bei Sony, über die Hardware verkauft werden. Das heißt, sie müssen sich dann als RTL bei den Fernseherherstellern einkaufen, um überhaupt einspielen zu können, was sie wollen. Der Witz ist, dass auch die Werbetreibenden Zeit einkaufen können. Es kann dann sein, sie schauen irgendwas bei RTL und dann kommt am oberen Bildschirmrand eine Werbung, die nicht von RTL ist. Diese Doppelbespielbarkeit des Bildschirms wird noch sehr spannend werden.

derStandard.at: Man kauft sich also einen globalisierten Zugang bei den Geräteherstellern.

Thimm: So ist es. Da kommt noch ganz viel, deshalb sag ich auch immer: "Vorsicht mit den schnellen Abgesängen." Die Endgeräte, wie das iPad Mini, gehen immer mehr in die Richtung, nicht zu viel Text zu lesen, die Bildchen anzusehen und die Filme dazu abzuspielen.

derStandard.at: Das wäre also der vorgezeichnete Weg, um auch die Digital Natives wieder zum Zeitungslesen zu bringen. Aber finden sie auch wieder zu den Zeitungsmarken zurück?

Thimm: Das kann ich schwer abschätzen. Ich bin nur von einem felsenfest überzeugt: Irgendwann ist es auch dieser Generation zu blöd, sich durchs Netz zu klicken. Die wollen verlässliche Informationen und in dem Moment, wo sie im Beruf sind, brauchen sie die auch. Da kann ich nicht mit irgendeinem Geschwätz hantieren. 

derStandard.at: Die Frage bleibt, wie die Leser zu den Nachrichten kommen, in Zeiten des Social Flow, wo Informationen zunehmend den Leser finden und nicht umgekehrt.

Thimm: Es wird auf jeden Fall einen Restbestand an Zeitungen geben. Schwieriger finde ich die Frage: "Woher kommen die Nachrichten?", die Macht der Algorithmen, die Sortierung der Informationen nach bestimmten Rankings. Twitter macht das ja auch. Viele Leute wissen das nicht.

derStandard.at: Das wird ein noch größeres Thema werden, wenn das Netz aus dem Bildschirm ausbricht und das "Internet of Things" aktiv wird.

Thimm: Deswegen glaube ich, man braucht auch so etwas wie Mainstream Media, wie die Amerikaner so schön sagen. Vielleicht ist irgendwann mal der "Spiegel Online" ein Traditionsmedium. Die haben früh angefangen, investiert und schreiben schwarze Zahlen. Aber es bleibt natürlich die Frage, was mit der Printausgabe passiert. Die Querfinanzierung wird später wahrscheinlich so sein: das Online-Geschäft zahlt die paar Printleute noch.

derStandard.at: Sie glauben also, dass es noch Printleute geben wird.

Thimm: Ja, aber vielleicht sieht Print dann ja ganz anders aus. Wenn wir mal ein anderes Papier haben, kann ja sein, dass wir etwas Besseres finden. Fernsehen wird das nächste sein, worüber alle debattieren werden. Ich bin mir sicher, dass die Printkultur und die qualitative Fernsehkultur bestehen bleiben.

derStandard.at: Das klingt nach einer deutlichen Fürsprache für öffentlich-rechtliche Sender. In dem von Ihnen beschriebenen TV-Hardware-Szenario wären möglicherweise die Öffentlich-Rechtlichen die Übersender, die sich nicht einkaufen müssten.

Thimm: Das wird man sehen. Andernfalls hätten sie zumindest genug Finanzierungsmöglichkeiten über die Gebührengelder, um das zu bezahlen. Das wird man regeln, da gibt es ja genug Regulierungsbehörden, die das in die Hand nehmen. Ich bin eine absolute Verfechterin des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die Qualität kann man lange diskutieren, auch darüber, ob man fünfzehn digitale Spartenkanäle braucht, aber das öffentlich-rechtliche Fernsehen brauchen wir.

derStandard.at: Abseits der medieninternen Diskussion verändern die digitalen Werkzeuge gesellschaftliche Verhaltensmuster. Howard Rheingold hat bereits in den 1990er Jahren proklamiert, dass die Killerapplikation des Internet nicht aus dem Software- oder Hardwarebereich kommen wird, sondern aus neuen sozialen Praktiken. Seine Vision der "Smart Mobs" ist inzwischen Realität geworden.

Thimm: Bei den Smart Mobs war der Grundgedanke, dass man sich schnell über mobile Endgeräte organisieren kann. Dass das funktioniert, hat man gesehen. Es gibt ein paar Demos, die man vor diesem "Smart Mob"-Hintergrund erklären kann, aber in Ägypten, Stuttgart 21 oder China, wo sich Leute über den Twitterableger Sina Weibo organisieren, ist das etwas anderes. Man muss dazu sagen: Er hat diese Organisation eher spaßig gemeint. Das ist es ja jetzt nicht mehr. Wir haben immerhin eine Partei, die Piraten, die sich so organisieren.

derStandard.at: Eine Partei, der digitale Kommunikation als Grundlage dient. Was zeichnet den Typus des digitalen Citoyen eigentlich aus?

Thimm: Der Citoyen im Französischen ist jemand, der Verantwortung für den Staat übernimmt und ihm entsprechend etwas abfordert. Das Interessante ist, dass jetzt auch hierzulande nicht mehr der wohlbeleibte Bürger á la deutscher Tradition "Lass mal den Staat machen, Hauptsache ich habe meine Ruhe" präsent ist, sondern plötzlich dieser Unruhegeist herrscht. Dass man sagt, man will beteiligt werden, man will Mitsprache und die soll auch bitte klar sichtbar sein, in Gesetzesform und nicht nur vor der eigenen Tür, sondern auch weitergehend. Das ist erst durch die digitalen Medien denkbar.

derStandard.at: Dabei stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Haltung beispielsweise auf Staatsgeheimnisse haben kann?

Thimm: Ich denke, der Staat muss natürlich ein paar Geheimnisse haben. Andererseits stellt sich die Frage: Wo beginnt Transparenz als Grundforderung des neuen selbstbewussten Bürgertums und wo endet sie? Wir Citoyens fordern groß Transparenz und Beteiligung, aber die finanzielle Verantwortung, die Folgeverantwortung dafür soll nachher die Politik tragen. Ein gutes Beispiel ist das Thema Energiewende. Keiner in Deutschland will die Dinger in seinem Garten haben, aber irgendwo müssen sie hin. Ich glaube, das wird spannend: Wie kriegt man auch diese Bürger dazu Verantwortung zu übernehmen? Die Debatte wird null geführt.

derStandard.at: Wahrscheinlich regiert zuerst der kindliche Übermut, um dann die nächste Stufe zu erreichen.

Thimm: Im Moment galoppiert erst mal alles davon. Wir galoppieren den neuen Medien und Formaten hinterher und sehen, was unser Hirn noch so aushält. (Tatjana Rauth, derStandard.at, 28.11.2012)