Europa und die Wirtschaftskrise, das sind mittlerweile Synonyme geworden. Wann immer man dieser Tage Politiker und sonstige Experten über Europa sprechen hört, geht es um die Wirtschaftskrise - nur um die Wirtschaftskrise. Als ob Europa nichts anderes wäre.
Das ist äußerst riskant. Denn Europa wird so - und dies setzt sich in den Köpfen nachhaltig fest - auf die Wirtschaft reduziert. Damit aber wird Europa zu einer Zweckgemeinschaft, die nur dann berechtigt ist, wenn der Einzelne mehr von ihr profitiert, als er investiert, und wenn die Wirtschaft sich insgesamt erholt und wächst. Tritt beides nicht ein, muss - so die zwingende Folgerung - das Projekt Europa scheitern.
Es fehlt die kulturelle Dimension
Was Europa daher heute mehr denn je fehlt, ist die kulturelle Dimension. "Wenn ich nochmals mit dem Aufbau Europas beginnen könnte, dann würde ich mit der Kultur anfangen", so die rückblickenden Worte, die Jean Monnet, einer der Gründerväter der Europäischen Union, gesagt haben soll.
Was fehlt, ist die große kulturelle Erzählung, die das Projekt Europa in unsere Herzen trägt. Dabei wäre es so einfach, liegt die Erzählung doch klar auf der Hand, ist sie doch so gut bekannt. Nur: Um lebendig zu sein, um wirken zu können, um den Weg in unsere Herzen zu finden, muss sie erzählt werden - von Leuten, die sie tatsächlich im Herzen tragen, von Leuten, die an sie glauben.
Europa erzählen
Die Erzählung, das wäre die eines Kontinents, dessen Nationen sich in zwei Weltkriegen mit abgrundtiefem Hass bekämpft und beinahe ausgelöscht haben. Und die sich trotzdem, trotz all des unermesslichen Leids, das sie sich zugefügt haben, die Hände gereicht, um Versöhnung gebeten und sich auf die Beine geholfen haben. Und die sich geschworen haben, in Zukunft zusammenzustehen. Europa, das ist die fast mythische Geschichte einer unglaublichen Versöhnungstat.
Wie schal, wie lächerlich, wie beschämend muss da der Umgang mit der Wirtschaftskrise wirken. Das dumme Aufrechnen von vergangenen Fehlern, das engstirnige Pochen auf Leistung und Gegenleistung, das kleinkarierte Abwägen von Nutzen und Schaden. Das Fehlen jeder Großzügigkeit, so unabdingbar für jede Partnerschaft. Und vor allem das Fehlen jeder Bereitschaft, für den anderen einmal richtig einzustehen - auch dann, wenn es weh tut. Kurz: das Fehlen jeder Leidenschaft.
Europa ist mehr
Zu hoffen bleibt, dass wir uns irgendwann wieder an die Geschichte von der Versöhnung Europas erinnern und uns von ihr berühren lassen. Dann wird uns aufgehen, dass es nicht Europa ist, das mit der Wirtschaftskrise nicht umgehen kann, sondern Politiker, die sich anmaßen, im Namen Europas zu sprechen. Europa ist mehr als nur Wirtschaft, Europa ist auch mehr als europäische Politik. Europa ist die Idee einer Gemeinschaft, die wir zu verwirklichen haben. Eine Heimat, die wir uns nicht kaputt machen lassen sollten. (Michael Zichy, derStandard.at, 17.12.2012)