Matthias Kaltenbrunner, "Flucht aus dem Todesblock". Studienverlag, 2012

Cover: Studienverlag

Linz - In den Tagen vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, am 2. Februar 1945, um exakt 0.50 Uhr, wagten rund 500 russische Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen einen organisierten Ausbruchsversuch - den größten in der Geschichte der NS-Konzentrationslager. Die für den Betrieb des Konzentrationslagers zuständige SS startete die, zynisch als " Mühlviertler Hasenjagd" bezeichnete, mörderische Hetze auf die geflohenen Insassen. Den Sicherheitskräften und der Bevölkerung in der Umgebung wurde mitgeteilt, es seien 500 "Schwerverbrecher" aus dem KZ ausgebrochen, die eine große Gefahr darstellten. Sie müssten sofort " unschädlich" gemacht werden. Keiner dürfe lebend in das KZ zurückgebracht werden. Nur acht Geflüchtete überlebten das Morden.

Obgleich diese Geschichte, vor allem durch Andreas Grubers Film Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen, österreichweit und international bekannt ist, war über die Genese dieser Mordaktion, die Opfer und die wenigen Überlebenden in der Sowjetunion bislang kaum etwas bekannt. Diese Lücke versucht der junge Historiker Matthias Kaltenbrunner mit seinem Buch Die Flucht aus dem Todesblock zu schließen.

Die Idee zu dem Buch kam dem 25-jährigen Oberösterreicher während seines Zivildienstes in der Gedenkstätte Mauthausen. Die weiteren Recherchen für das über 400 Seiten starke Zeitdokument stellten sich als durchaus mühsam heraus. "Von den Überlebenden ist wenig bekannt. Ich bin nach Kiew gereist, um Informationen zu bekommen. Der Durchbruch gelang, als ich Kontakt zu der heute 88-jährigen russischen Journalistin Ariadna Jurkowa aufnehmen konnte, die sich in den 60er-Jahren intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat", erzählt Kaltenbrunner im Gespräch mit dem Standard. Mit den Namen der Überlebenden im Gepäck machte sich der Historiker dann auf den Weg zu den diversen Gemeindeämtern in Russland - mit dem Ziel, Angehörige zu finden.

Einblick in den "Todesblock"

Der peniblen, zweijährigen Recherche Kaltenbrunners - übrigens nicht verwandt mit Ernst Kaltenbrunner, SS-Obergruppenführer und Chef des Reichs-Sicherheits-Hauptamtes (RSHA) - ist es zu verdanken, dass nun erstmals eine umfassende wissenschaftliche Analyse über die Hintergründe zur "Mühlviertler Hasenjagd" vorliegt. NS-Verfolgungsmaßnahmen werden anhand der Aussagen der Beteiligten - der Geflohenen ebenso wie der beteiligten SS-Männer und der wenigen, die den Häftlingen trotz des Risikos halfen - beleuchtet.

Das Buch beginnt aber nicht mit dem Fluchttag, sondern setzt weit vor dem 2. Februar 1945 an. Beginnend mit der Kreation einer nationalsozialistischen Mordaktion - der "Aktion Kugel" - werden die Wege der Opfer nach Mauthausen nachgezeichnet und in weiterer Folge dann auch die hierarchischen Strukturen im Block 20, dem sogenannten " Todesblock", durchleuchtet.

Thematisiert wird auch die Nachgeschichte, etwa die Schwierigkeiten, die die acht Überlebenden in ihrer Heimat hatten: Erst mit dem Ende des Stalinismus, wo alle KZ-Überlebenden pauschal als "Verräter" verunglimpft und verfolgt wurden, erhielten sie in der Sowjetunion eine öffentliche Anerkennung. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD, 30.11.2012)