Bild nicht mehr verfügbar.

"Suchen Sie ruhig, Leutnant", sagte der bettlägerige Neruda zum Kommandanten. "Waffen werden Sie nicht finden. Hier gibt es nur eine Sache, die Ihnen gefährlich werden könnte: Poesie."

Foto: ap

Die Ortschaft Isla Negra, 80 Kilometer südlich von Valparaíso an der chilenischen Pazifikküste gelegen, zieht täglich ein paar Dutzend Touristen an. Zumeist ausländische Besucher, die das Haus des Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda besichtigen wollen, das in Konstruktion und Ausstattung ebenso poetisch anmutet wie sein lyrisches Werk.

Neruda hatte das Anwesen schon 1938 erworben, nach seiner Rückkehr aus dem republikanischen Spanien, und im Lauf der Jahre mehrmals umgebaut, aber nur zeitweise bewohnt, wegen der Verfolgung, der er in den späten 40er-Jahren ausgesetzt war, als der damalige Präsident Gabriel González Videla die Kommunistische Partei verboten und ihn, seinen schärfsten Kritiker, zur Verhaftung ausgeschrieben hatte, und wegen der politischen wie literarischen Verpflichtungen, denen er später, in der wiedererrungenen Legalität, unermüdlich nachkam. Die letzte hatte er 1970 übernommen, nach dem Wahlsieg seines Freundes Salvador Allende, der ihn als Botschafter nach Paris entsandte.

Gemeinsam mit seiner Frau Matilde Urrutia kehrte Neruda im November 1972 nach Chile zurück, um sich auf Dauer, wie er hoffte, in Isla Negra niederzulassen. In Frankreich war an ihm Prostatakrebs diagnostiziert worden, den die Ärzte als nicht unmittelbar lebensbedrohend einschätzten.

Er arbeitete fieberhaft an mehreren Gedichtzyklen, trat bei Kundgebungen der Unidad Popular auf und war besorgt wegen der immer aggressiveren Methoden, mit denen Unternehmerverbände und Rechtsparteien auf Betreiben des US-amerikanischen Geheimdienstes die Regierung stürzen, die Verstaatlichung der Bodenschätze sowie die Bewirtschaftung von Latifundien durch Kooperativen rückgängig machen und das soziale Hilfsprogramm für die armen Bewohner der "poblaciones" zerschlagen wollten.

Auf den deutlichen Wahlsieg der Unidad Popular bei den Wahlen 1973 reagierte die Opposition mit Mordanschlägen, Boykottmaßnahmen, Hassparolen und erlogenen Horrormeldungen.

Die Atmosphäre im Land erinnerte Neruda an die Lage der Spanischen Republik unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkriegs, die er als chilenischer Konsul und als Initiator eines Komitees von Künstlern und Intellektuellen miterlebt hatte. Er ahnte, dass es zu einem Militärputsch kommen würde.

Im August besuchte ihn Luis Corvalán, der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, der Neruda seit 1945 angehörte, und bemühte sich, seine Befürchtungen zu zerstreuen. "Ja, es kann zu einem Putsch kommen. Aber dir, Pablo, wird man kein Haar krümmen. Du bist zu berühmt, als dass sie so etwas wagen würden." "Du irrst dich", antwortete Neruda. "García Lorca war der Zigeunerprinz, und du kennst sein Schicksal."

Vielfache Angebote – sowohl von Regierungsseite als auch von Freunden im Ausland -, Chile wenigstens für einige Monate zu verlassen, lehnte er bis kurz vor seinem Tod ab. Am 11. September erfuhr er im Radio, durch einen argentinischen Kurzwellensender, von der Erhebung der Marine, später vom Angriff auf den Präsidentenpalast La Moneda und von Allendes Ende.

Tags darauf nahmen Soldaten in Isla Negra eine Hausdurchsuchung vor. "Suchen Sie ruhig, Leutnant", sagte der bettlägerige Neruda zu ihrem Kommandanten. "Waffen werden Sie nicht finden. Hier gibt es nur eine Sache, die Ihnen gefährlich werden könnte." "Was", fragte der Unteroffizier. "Poesie", erwiderte Neruda.

Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Sechs Tage nach dem Staatsstreich ließ er sich von Matilde und seinem Chauffeur Manuel Araya im Rettungswagen nach Santiago in die Klinik Santa María bringen. Auf Drängen seiner Frau nahm er das Angebot des mexikanischen Präsidenten Luis Echeverría an, ihn nach Mexiko-Stadt ausfliegen zu lassen. Der Abflug wurde, auf Nerudas Wunsch, auf den Vormittag des 24. September verschoben. Aber der Dichter starb am Abend davor.

Wie Matilde später berichtete, war sie am 22. mit Araya noch einmal nach Isla Negra gefahren, um Bücher zu holen, die Neruda ins Exil mitnehmen wollte. Dort erreichte sie sein Anruf, bei dem er sie bat, sofort nach Santiago zurückzukehren. "Ich kann jetzt nicht reden", sagte er. Sie befürchtete, er werde verhaftet.

Bei ihrer Rückkehr fand sie ihn aufgewühlt vor, aus Empörung und Schmerz. In ihrer Abwesenheit hätten ihm einige Besucher, unter ihnen die Botschafter Schwedens und Mexikos, das Ausmaß der Repression geschildert, das Matilde ihm bis dahin verschwiegen hatte. Verhaftungen, Morde, Folterungen, Bücherverbrennungen – auch seiner Werke.

Matilde versuchte ihn zu beruhigen, die Besucher hätten übertrieben. Sie rief ihm besonders schöne Stunden in Erinnerung, die sie zusammen erlebt hatten. Für eine Weile schien er die Gegenwart vergessen zu haben. Aber am Abend desselben Tages meinte er ruhig und bestimmt, dass er Chile nicht verlassen werde. "Da verstand ich, dass er hier alles hatte, was er am meisten liebte, dass es ihm unmöglich war, die grausame Verfolgung des Volkes aus der Ferne zu verfolgen. Ich versprach ihm, den mexikanischen Botschafter am nächsten Tag von seiner Entscheidung zu verständigen."

Nach Mitternacht begann Neruda mit weit aufgerissenen Augen zu fantasieren, er sah Soldaten vor sich, Gewehre, Ströme von Blut, wie in der letzten Strophe seines berühmten Gedichts aus dem Spanischen Bürgerkrieg, Explico algunas cosas: "Ihr fragt, warum seine Dichtung / uns nichts von der Erde erzählt, von den Blättern, / den großen Vulkanen seines Heimatlandes? // Kommt, seht das Blut in den Straßen, / kommt, seht / das Blut in den Straßen, / kommt, seht doch das Blut / in den Straßen!". Er erkannte seine Frau nicht mehr. Am Nachmittag des 23. gab ihm eine Krankenschwester eine Spritze, angeblich ein Schlafmittel. Er schlief ein und wachte nicht wieder auf.

Unlängst ist in Chile ein Buch des spanischen Journalisten und Historikers Mario Amorós erschienen (deutsch: Schatten über Isla Negra. Pablo Nerudas mysteriöser Tod), das an beiden bisher bekannten Versionen Zweifel aufkommen lässt – sowohl an der offiziellen, von Nerudas Leibarzt Sergio Draper bestätigten, wonach der Dichter an den Folgen seiner Krebserkrankung gestorben sei, als auch an der von Matilde Urrutia überlieferten, dass sein Tod der Erschütterung über das faschistische Unwesen geschuldet sei. Genährt werden diese Zweifel durch Amorós' Gesprächspartner Manuel Araya, Chauffeur und Leibwächter, der sich auch in der Klinik um ihn und seine Frau gekümmert hatte.

Araya, der behauptet, mit Matilde erst am Todestag nach Isla Negra gefahren zu sein, ist überzeugt, dass Neruda vergiftet wurde. Dieser habe Matilde telefonisch mitgeteilt, dass ihm in ihrer Abwesenheit ein unbekanntes Mittel gespritzt worden sei. Nach ihrer Rückkehr sei die Haut rund um die Einstichstelle rot verfärbt gewesen und Nerudas Befinden habe sich verschlechtert.

Ein ihm unbekannter Arzt habe ihn, Araya, kurz nach seinem Eintreffen in der Klinik beauftragt, in einer Apotheke ein dringend benötigtes Medikament zu besorgen. Auf dem Weg dorthin wurde er angehalten, angeschossen und bewusstlos geprügelt. Er kam erst wieder im zu einem Konzentrationslager umgewandelten Nationalstadion zu sich, wo er gefoltert und nach einigen Tagen auf Betreiben des Kardinals Raúl Silva Henríquez, eines Verehrers Nerudas, freigelassen wurde. Von Silva erfuhr er auch, dass Neruda in der Zwischenzeit verstorben war.

Verbrechen der Diktatur

Man könnte Arayas späten Bericht – er ist damit im Vorjahr an die Öffentlichkeit gegangen – als den eines Wichtigtuers abtun. Aber da ist die Krankenschwester Rosa Núñez aus San Antonio, die in Isla Negra nach Neruda gesehen hatte. Sie behauptet, Matilde Urrutia habe ihr nach Jahren anvertraut, dass Neruda ermordet worden sei. Plötzlich ist seine Krankengeschichte in der Klinik Santa María nicht mehr auffindbar.

Seit Dezember 2009 weiß man, dass der Christdemokrat Eduardo Frei Montalva, der den Militärputsch anfangs begrüßt hatte, sich dann aber zu einem scharfen Kritiker des Regimes wandelte, in derselben Klinik nach einer Leistenbruchoperation mittels einer durch Senfgas und Thallium herbeigeführten Infektion ermordet worden ist. Ermordet wurde auch Nerudas Freund und Sekretär Homero Arce, dem der Dichter bis zuletzt seine Erinnerungen diktiert hatte.

Es besteht kein Zweifel, dass Neruda sowohl in Chile als auch in der Verbannung, wie der General Carlos Prats und die Politiker Orlando Letelier und Bernardo Leighton, die Verbrechen der Diktatur angeprangert hätte. Prats und Letelier wurden durch Agenten oder angeworbene Killer des militärischen Geheimdienstes DINA ermordet, in Buenos Aires und Washington, Leighton wurde in Rom so schwer verletzt, dass er bis an sein Lebensende behindert blieb.

Ein Attentat auf Neruda hätte dem Regime mehr geschadet als genützt. Ihn noch in der Klinik sterben zu lassen, das wäre nach der Logik seiner Feinde die bessere Option gewesen.

Aus all diesen Gründen hat die Kommunistische Partei Chiles bei Gericht eine Autopsie des Leichnams beantragt, der in Isla Negra bestattet wurde – Nerudas Wunsch entsprechend ruht seine Frau, die 1985 verstarb, an seiner Seite. Es ist zu erwarten, dass der zuständige Richter Mario Carroza dem Antrag in Kürze stattgeben wird.

Chile hat, wie Amorós schreibt, an Neruda eine Schuld abzutragen. "Die Umstände seines Todes dürfen nicht im Dunkeln bleiben, schon gar nicht im Schatten des Terrors." Sie aufzuklären, hat sich ein Dichter verdient, der, inzwischen vielgeschmäht, die Augen in den schwarzen Tagen der chilenischen Geschichte offen halten wollte. (Erich Hackl, Album, DER STANDARD, 1./2.12.2012)