Er kann nicht gut Englisch, wie seine Begegnung mit dem FC-Bayern-Spieler Alaba gezeigt hat. Mit seinem Vorstoß zur Einführung der Gesamtschule hat er die Scharte ausgewetzt. Günter Platter, Tiroler Landeshauptmann, hat die Ideologiefraktion der ÖVP verlassen und ist in Bildungsfragen zu den Realisten übergewechselt.

Südtirol, seit vielen Jahrzehnten von der dortigen Volkspartei dominiert, hat die Gesamtschule. In Nordtirol wird nach den Vorgaben der österreichischen Lehrergewerkschaft und dem theresianischen Kadettendenken der ÖVP-Spitze unterrichtet.

Das Pisa-Ergebnis: In Nord- und Osttirol können 31 Prozent am Ende ihrer Schulzeit nicht sinnerfassend lesen. In Südtirol sind es nur 18 Prozent. Weil die Kinder Nordtirols sicher nicht blöder sind als ihre Altersgenossen im Süden, hat die Tiroler Arbeiterkammer auch eine Studie in Auftrag gegeben. Sora-Institutsleiter Günther Ogris kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Gesamtschule "nach oben nivelliert", schlechte Schüler hochgezogen werden. Was Platter, der sich in dieser Frage mit seinem Südtiroler Amtskollegen Luis Durnwalder abgestimmt hat, in einem Interview mit derStandard.at zur Feststellung veranlasst: "Die Gesamtschule ist keine Frage der Ideologie, sondern eine der Vernunft."

Will heißen: Michael Spindelegger, Fritz Neugebauer & Co sind in Bildungsfragen nicht vernünftig. Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer haben schon auf Realismus geschaltet.

Im zitierten Interview ist Platter noch weiter gegangen. "Die Nähe zu Südtirol ist gegeben, und die dortigen Ergebnisse sind bekannt," sagte er. Weshalb es auch einen einstimmigen Beschluss im Tiroler VP-Vorstand pro Gesamtschule gegeben habe.

Natürlich weiß man, dass die Tiroler Herzen stärker Richtung Bozen, Meran und Bruneck schlagen als Richtung Wien und St. Pölten. Aber in Sachfragen war Wien immer erste Adresse.

Der Gesamtschulvorstoß ist verbal eher sanft gewesen. Aber er ist ohne Zweifel eine Kampfansage. Denn Platter weiß die SPÖ in dieser Frage auf seiner Seite. Tirol will sich von einer stockkonservativen Volkspartei nicht die Zukunft verbauen lassen.

Nicht nur die ÖVP, die gesamte Bundesregierung sollte die Signale hören. Tirol (und Vorarlberg) haben seit jeher ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das auf föderalistische Fakten noch eins draufsetzen kann. Umgekehrt ist die Wiener Überheblichkeit immer wieder ein Hindernis, die weiter entfernten Bundesländer zu verstehen. Das gilt auch für Journalisten und jene unter ihnen, die - endlich in Wien - konvertiert sind.

Auch die EU hat die Tiroler Identität kaum gestärkt. Nach Einschätzung des Föderalismus-Forschers Peter Pernthaler ist die durch den Beitritt Österreichs erwartete Aufwertung beider Tirols als "Europa-Region" nach Jahren der europäischen Praxis nicht eingetreten. Im Gegenteil: Die Ohnmacht gegenüber dem Brüsseler Zentralismus (siehe Transit) wachse.

Das jüngste Beispiel lässt wieder hoffen. Es geht um die Verkehrswege der Gehirne. (Gerfried Sperl, DER STANDARD, 3.12.2012)