Karl Igl vor dem Regenbogen-Trikot, das im Radsport traditionell die Weltmeister schmückt, ihn also dreimal schmückte.

Foto: Lützow

Karl Igl steht auf der Bahn des Wiener Ferry-Dusika-Stadions auf einer Honda. Roland Königshofer versucht möglichst knapp an der Rolle und also im Sog seines Schrittmachers zu bleiben. Das spart Kraft und ermöglicht hohes Tempo.

Foto: Putz

Wien - Die Kokoskuppeln, die Annemarie Igl dieser Tage ihrem Karl in der Küche des kleinen Hauses in Simmering zum Kaffee serviert, sind perfekt. Der in Kuvertüre getunkte Waffelboden noch knusprig, die Schokocreme darauf nicht zu süß, die Kokosraspelmasse nicht zu dunkel, und frisch, frisch sind sie sowieso. Rund 2000 macht Annemarie Igl alle Jahre vor Weihnachten, natürlich nicht ausschließlich für Karl, mit dem sie seit 42 Jahren verheiratet ist. Verwandte und Freunde werden beglückt, und der Weihnachtsbasar des E-Werks in Simmering, wo Karl bis zur Pensionierung als Mechaniker gearbeitet hat.

Die Mehlspeisen von Annemarie sind legendär, nicht nur, aber auch in Radsportkreisen. Weil die Verkäuferin ihren Karl, wann immer sie freibekommen hat in der Trafik, begleitet hat auf dessen Touren durch Europa, von Radbahn zu Radbahn "mit der Kaffeemaschine und dem Palatschinkenpfandl".

Außer Karl hat Annemarie auch ihre "Buam" mit Kalorien und Zuspruch versorgt, allen voran Roland Königshofer, den Specht, wie der mittlerweile 50-jährige Vater des aktuellen Rapid-Goalies Lukas Königshofer wegen seiner zwei natürlichen Haarfarben seit jeher genannt wird.

Schneller Igl, schneller Specht

Der Igl und der Specht, die waren jahrelang eine große Nummer in einem Sport, der in Österreich heute nicht mehr existiert. Königshofer war gut auf der Straße, vor allem aber ein Steher, also einer jener Radfahrer, die auf der Bahn möglichst knapp hinter einem schweren, vom sogenannten Schrittmacher gelenkten Motorrad ihre Runden abspulen. Wettkampfhärte müssen sie haben, daher der Name, technisch perfekt sollten sie sein, auf den bremsenlosen Bahnrädern im Pulk der konkurrierenden Paare, und mutig auch. "Wir sind im Dusika-Stadion mit bis zu 100 km/h unterwegs gewesen, in Dortmund gar mit bis zu 115", erinnert sich Igl, Königshofers Schrittmacher, den stoische Ruhe und ein feines Gespür für die Rennsituation und die Verfassung seines strampelnden Schützlings auszeichneten.

Der Sog, den die schweren Maschinen erzeugen, ermöglicht dem Radfahrer in den 25 oder 50 Kilometer langen Rennen Durchschnittsgeschwindigkeiten von mehr als 70 km/h, die Steilkurven verhindern Abflüge, "weil man da fast im rechten Winkel fest drinnenhängt. Je flacher die Bahn, desto gefährlicher", sagt Igl. Gestürzt sind der Specht und der Igl öfter, dem Schrittmacher ist nie Ernstliches passiert, "aber manchmal haben wir schon wie die Schnitzel ausgeschaut".

"Oooo"

Igl gab für gewöhnlich Gas, bis er Königshofer durch die nach hinten offenen Kopfhörer am Helm ein langgezogenes "O" schreien hörte. Dann musste er eben abdrehen, um seinen Mann nicht zu überfordern, "aber einmal habe ich nicht abgedreht, er hat geschrien und geschrien und ich habe mir gedacht, dass er auch noch treten kann, wenn er so schreien kann". Manchmal hat Igl selber "Ooooo" geschrien und gehofft, dass der Schrittmacher nebenan seinen Steher zu hören vermeint und sich einbremst, "oder ich habe meinen Oberkörper so gedreht, dass der Radfahrer des Nebenmannes meinen Sog abbekommen und seinen Windschatten verloren hat. Die waren dann chancenlos."

Mit oder ohne Tricks haben die Gegner oft alt ausgeschaut. 1989 bis 1991 waren Igl und Königshofer dreimal en suite Weltmeister der Amateure, triumphierten auf den Bahnen in Lyon, Maebashi (Japan) und Stuttgart. Igls Trophäenraum schmücken zehn weitere WM-Medaillen. Er hat eine mehr als Königshofer, weil er einmal auch dem Profi Danny Clarke voranfuhr und mit dem Australier in Wien WM-Silber gewann. Wie viele Meistertitel es bei den Stehern und im Derny waren, einer verwandten Sportart mit Mopeds zum Mittreten, weiß Igl gar nicht genau. Jedenfalls war er einmal auch tschechischer Meister auf der Bahn in Brünn.

Und er hält noch immer den Stundenweltrekord der Steher. 73,053 Kilometer legten Igl und Franz Varga im November 1980 zurück. Dazu kommen zahllose Siege mit Königshofer bei Veranstaltungen wie Sechstagerennen, den sportlichen Bahnradshows in Bierzeltatmosphäre, die heute noch, etwa in Dortmund und Zürich, die Massen anziehen.

Helden

Auch das Dusika-Stadion hatte Ähnliches zu bieten, zum Beispiel die Z-Radgala über drei Tage. Da waren Igl und Königshofer Helden, die gegen zahlenmäßig stets überlegene Kollegen aus Italien, einer Hochburg des Stehersports, fuhren. Wenn Igl das Tempo erhöhte und Königshofer zum Sieg zog über die Herren Roberto Dotti, Mario Gentili oder Vincenzo Colomartino, zuckte nicht nur der Hallensprecher aus. Der werbewirksam beschworene Kampf gegen die "italienische Mafia" zog einmal sogar eine Note der Botschaft an den Radsportverband nach sich. Der möge mäßigend auf Promotor und Presse einwirken, gebe es doch bitte schön keine Mafia, schon gar keine italienische.

13 Jahre lang fuhr Königshofer Igl hinterher. Zu Beginn war es wegen der Spesen ein Zuschussgeschäft, später gab es Startgelder, "vielleicht 1500 Schilling", und die Preisgelder. Und für die WM-Titel ließ die Stadt Wien jeweils den mit 100.000 Schilling dotierten Großen Sportförderungspreis springen. "Das war dann schon schön, hat aber auch Neid erweckt", erinnert sich Igl.

Stellt sich die Frage, wie man zu diesem eher ausgefallenen Sport kommt. Durch eine ausgeprägte, unvernünftige Leidenschaft für Motorräder vielleicht? "Ich habe nie eines besessen", sagt Igl. Die Eisen für den Sport sind quasi bahneigen, "Wien hat 500er-Honda gehabt, Zürich 750er-Yamaha, Stuttgart 600er-Triumph".

In der Freizeit

Karl Igl, dessen Großeltern eine Gärtnerei auf der Simmeringer Haide besaßen, kam über einen Kollegen im E-Werk zum Radsport, wirkte in der Freizeit als Rennkommissar auf dem Motorrad bei Straßenrennen. Ferry Dusika selbst hat ihn überredet, einen Schrittmacherkurs zu belegen. "Da haben sich viele gemeldet, aber kaum einer ist dabei geblieben, auch wegen der Verantwortung, die man hat."

Annemarie, die, zumindest was die Erinnerung betrifft, oft wie Karls Schrittmacher wirkt, weil sie ja alles gesammelt hat, Fotos und Zeitungsausschnitte, packt ein paar Kokoskuppeln ein. Auch der Specht bekommt welche. Dieser Tage, wie alle Jahre vor Weihnachten, wird er anklopfen bei den Igls in Simmering. (Sigi Lützow, DER STANDARD, 03.12.2012