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Scharfer Kritiker: Mohamed ElBaradei.

Foto: Thomas Hartwell/AP/dapd

Die Unterstützer Präsident Mohammed Morsis, die am Samstag zur Gegendemonstration auf die Straßen gingen, schienen zum Teil selbst zu glauben, dass ihnen die neue Verfassung, über die am 15. Dezember abgestimmt wird, automatisch eine Art Gottesstaat bringen wird: Das ist definitiv nicht der Fall. Das Problem der Verfassung liegt allgemein in ihrer autoritären Tendenz, die im heutigen Ägypten die islamistischen Kräfte ermutigt, diese Autorität auszuüben. Außerdem ist die Verfassung lückenhaft wie ein Sieb: Vieles ist vage und bietet wiederum den heute Stärksten - den Islamisten - die Deutungshoheit und Möglichkeit zum Eingreifen.

Wenn etwa der Staat die Rolle hat, "Ethik und Moral" zu "gewährleisten", so sieht das wie eine Einladung aus, sich ins Privatleben der Menschen zu mischen. Auch der Polizei wird eine Aufgabe bei der Bewahrung öffentlicher Moral zugestanden.

Den vielzitierten Artikel 2, der die "Prinzipien der Scharia" als " hauptsächliche Rechtsquelle" festschreibt, gibt es jedoch seit 1981. Das " hauptsächliche" hatte sich noch Präsident Anwar al-Sadat von den Islamisten reindrücken lassen. Auch die Aufwertung der islamischen Hochschule Al-Azhar zum Schiedsrichter über das, was Scharia sein soll (es gibt ja keine kodifizierte Scharia), ist zur Jetztzeit, mit einer mehrheitlich moderat besetzten Al-Azhar, kein Problem - kann es aber werden. Muslimbrüder und Salafisten werden künftig um die Topjobs in dieser Institution ringen.

Was die Freiheit von Religionsausübung betrifft, so sind die nicht-abrahamitischen Religionen klar benachteiligt: Der Staat garantiert ihnen nicht das Recht auf ihre Riten und Orte, wo sie diese ausüben können. Und es heißt zwar, dass "alle" religiösen Gesandten und Propheten nicht beleidigt werden dürfen - für wen diese Kategorisierung jedoch zutrifft, bleibt offen und wird von den Islamisten wohl einzig zugunsten der Buchreligionen (neben dem Islam Judentum und Christentum) ausgelegt werden.

Artikel 219, als Ergänzung zu Artikel 2, hingegen dürfte den Freunden der Muslimbrüder in Teheran, die ja die ägyptische Revolution als Schwesterrevolution zur iranischen gefeiert haben, schweres Kopfzerbrechen bereiten: Denn da ist eindeutig festgeschrieben, dass die Scharia sich aus den sunnitischen Rechtsschulen speist. Von einer fünften, jafaritischen Schule, als welche Al-Azhar die Schia anerkannt hat, ist nicht die Rede. Ägypten ist und bleibt schiitophob - obwohl (oder vielleicht weil) Al-Azhar, heute Leuchtturm der Sunna, 988 eine fatimidische Gründung war. Die Fatimiden waren ismailitische Schiiten.

Wie Oppositionspolitiker und Jurist Mohamed ElBaradei kritisieren, ist der Verfassungsentwurf aus demokratischer Sicht klar defekt, wenn es zu den "Rechten und Freiheiten" kommt. Es wimmelt nur so von subtilen oder groben Begrenzungen, die so unklar definiert sind, dass sie von der Obrigkeit nach Belieben benützt werden können. Das betrifft auch die Medienfreiheit (Artikel 48), die sich allen möglichen Kriterien unterwerfen muss: von der Staatssicherheit, den Prinzipien der Gesellschaft bis zu "öffentlichen Verpflichtungen".

Allgemein fällt auf, wie stark der Präsident ist - auch gegenüber dem Parlament: in einem System, das doch ein autokratisches überwinden sollte. Auch die Artikel, die die Kontrolle der Armee betreffen, sind weich - und sogar die Möglichkeit, Zivilisten vor ein Militärgericht zu stellen, bleibt.

Eine typische Muslimbrüderverfassung, könnte man sagen: nicht aggressiv islamisierend, denn das werden Staat und Gesellschaft auf sanfte Art erledigen. Moralisierend, autoritär - und im Wissen, dass es ohne Armee nicht geht, rückt man dieser nicht zu sehr auf die Pelle. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 3.12.2012)