Von Bertone über Pininfarina bis Italdesign: Fotograf Rainer W. Schlegelmilch hat in einem opulenten Band sehr gewagte Zukunftsvisionen der 1970er Jahre versammelt

Eine Einladung zur Zeitreise spricht Rainer W. Schlegelmilch, seines Zeichens Urgestein der Formel-1-Dokumentation, anhand der Publikation seiner 70s Concept Cars aus. Wobei es die opulent präsentierten, Ende der 1960er-Jahre in Italien entstandenen Fotoserien in ihrer Rezeption in zwei Teile zu dividieren gilt.

Einerseits sind hier damals wie heute futuristisch anmutende Spacecars und fantastische Boliden, die entweder als Unikate oder maximal in Mini-Serien produziert worden waren, zu sehen: Unter ihnen von Bertone, Pininfarina und Michelotti designte Preziosen wie der Lamborghini Marzal, Alfa Romeo Carabo, Maserati Medici II, Lancia Stratos Zero, Jaguar Ascot, Autobianchi A112 Giovani, Fiat Abarth 2000 Scorpio, Matra Laser, Ferrari 512 S Berlinetta Speciale oder der Ferrari 308 GT Rainbow. 

Semitransparente Blusen

Andererseits zeugen die "historischen" Aufnahmen vom Ungeist des damaligen Zeitgeistes, Autos testosterongesteuert stets trashig in Kooperation mit weiblichen Models aus einem Farrah-Fawcett-Lookalike-Contest in allzu prall gefüllten Overalls, nur in Dessous oder in semitransparenten Blusen und Kleidern zu inszenieren. Wäre dieses Setting retrospektiv nicht derart unfreiwillig komisch, bestünde akuter Sexismus-Alarm.

Einige der damaligen Designideen - manifestiert in den wundersamen futuristischen Konzeptfahrzeugen - sind auf dem Schrottplatz der Geschichte gelandet, andere entfalten ihre Wirkung bis heute. (Gregor Auenhammer, DER STANDARD, 30.11.2012)

Bertone Alfa Romeo Carabo 1968: Chefdesigner Marcello Gandini schuf für den Pariser Salon diese aparte Hülle für einen Zwei-Liter-V8-Rennmotor. Der Alfa Romeo Tipo 33 Stradale lieferte die Basis für diese mit geschupptem Heck und kompromissloser Keilform gesegneten Studie. Alfa war die Botschaft zu heiß, der Designer nahm die Ideen mit zu Lamborghini, deren Zwölfzylinder-Modelle fortan mit den von Gandini entwickelten Flügeltüren auftraten. Mittlerweile als "Lambo Styled Doors" auf diversen Ausfallstraßen dieses Landes zu besichtigen.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Bertone Lancia Stratos Zero 1970: Nuccio Bertone gab eine unmissverständliche Visitenkarte bei Lancia ab. Der Stratos Zero sollte die Turiner motivieren, einen fetten Auftrag für einen Straßensportwagen an die Design-Schmiede zu vergeben. Die Studie war auf das Wesentliche reduziert - die reine geometrische Form. Darin fanden zwei Passagiere und der Motor einer Fulvia HF Platz. Nuccio - so geht die Legende - fuhr unter der Zufahrtsschranke der Lancia-Zentrale hindurch, um die Bewerbung zu deponieren. Man zeigte sich aufgeschlossen und ließ bei Bertone den Lancia Stratos HF bauen. Kein allzu großer Auftrag, bekanntlich.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Bertone Lamborghini Marzal 1967: Sofort fällt das Sechseck als Gestaltungsmotiv ins Auge. Das Designelement sollte stilprägend für die italienische Sportwagenschmiede werden. Mit dem Marzal an sich mochte sich Firmengründer Ferruccio Lamborghini angeblich nicht so recht anfreunden. Durch die verglasten Türen seien die Beine der Insassinnen zu sehen, argwöhnte der Padrone.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Bertone Citroën GS Camargue 1972: Reichlich exaltiert kleideten die Turiner den braven GS samt seinen 54-PS-Vierzylindermotor ein. Mit Erfolg: Der Camargue markierte den Beginn der Zusammenarbeit der Carrozzeria mit dem französischen Hersteller. Früchte dieser Kooperation hörten auf die Namen BX, XM, ZX oder Xantia.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Bertone Jaguar Ascot 1977: Italienische Papagallo-Attitüde und britische Distinguiertheit? Konnte das gut gehen? Es ging, irgendwie zumindest. Schließlich schuf Bertone für Jaguar allerlei Kreationen, wie etwa den Pirana. Beim Ascot hingegen war man offenbar in einer Sackgasse des Kantianismus angelangt. Das wuchtige Coupé verbarg effektiv ein Chassis des XJ-S. Coventry winkte ab, heute ist der Goldene in der Bertone-Sammlung in Turin zu begutachten.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Bertone Lamborghini Bravo 1974: Den Formenschatz des Alfa Carabo setzte Gandini relativ unverblümt für die Kundschaft in Sant’Agata Bolognese um. Das giftgrüne Waffeleisen sollte als kleiner, radikaler Zweisitzer unter dem viersitzigen Urraco positioniert werden. Der potentielle Konkurrent des Ferrari 308 GTB blieb jedoch mangels Kleingeld ein Einzelstück. Als Erprobungsfahrzeug brachte der Bravo einige zehntausend Kilometer hinter sich, 2011 wurde das Schmuckstück versteigert. Der Preis. 588.000 Euro.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Pininfarina Ferrari CR 25 1974: Der neue Windkanal war gerade fertig geworden, prompt setzte der CR 25 mit einem cw-Wert von 0,256 neue Maßstäbe. Originell: Die vordere Stoßstange gab einen ernsthaften Frontspoiler, in der C-Säule verbargen sich ausklappbare Luftbremsen.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Bertone Autobianchi Runabout 1969: Als "Barchetta" pflegt der Italiener kleine Boote und offene Zweisitzer zu bezeichnen. Das nahm Gandini während seiner Suche nach der Form für den Nachfolger des Fiat 850 Spider quasi wörtlich. Heraus kam ein ausgesprochen visionäres Bötchen mit einem markanten Überrollbügel. Zu gaga? Nicht in jenen Tagen als die Erde noch flach war. Ein paar Jahre später fanden sich die Proportionen inklusive Klappscheinwerfern im und am legendären Fiat X1/9.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Italdesign Maserati Medici II 1976: Reihum scheiterten die Hersteller in den 1970ern und 1980ern, ihre Sportgeräte mit ein paar Zwischenstücken im Unterboden auf Limousine zu stretchen. Der Medici war so ein Versuch. Giorgio Giugiaro machte alle Fehler, die die anderen (Porsche, Ferrari) auch machten. Das in dieser Klasse unpopuläre Fließheck plus eine Eleganz negierende Wuchtigkeit kamen nicht über die Rampe. Der Medici II blieb ein Prototyp. Erkennbar sind dennoch einige Details, die später beim Lancia Delta oder beim DeLorean DMC-12 auftauchen sollten.

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

Pininfarina Fiat Abarth 2000 Scorpio 1969: Auf den ersten Blick erkennbar: Die Idee mit der mobilen Tür-Dach-Windschutzscheibe hat sich nicht durchgesetzt. Wie überhaupt der Scorpio - eine Abwandlung des Abarth 2000 SP - mit zahlreichen multifunktionalen Finessen aufwartete. So war die kupfergetönte Heckscheibe gleich auch die Haube für den Abarth-Heckmotor. Sehr funktional, nicht minder irritierend: das Auspuffendrohr. (Stefan Schlögl, derStandard.at, 4.12.2012)

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch

70s Concept Cars
Yesterday's Dreams of the Future

Rainer W. Schlegelmilch
teNeues Verlag, 2012

216 Seiten, Hardcover, 184 Farbfotografien
Text in Englisch, Deutsch und Französisch
79,90 EUR

Foto: © Rainer W. Schlegelmilch