Buchcover - Verlag Böhlau Wien

Wien - "Die Alltagsjustiz prägt ein System, auch das des Dollfuß-/Schuschnigg-Regimes der Jahre 1933-38", meint die Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal. Die tägliche juristische Praxis sei neben vielen anderen Punkten jedoch noch viel zu wenig erforscht. Reiter-Zatloukal ist eine der Herausgeberinnen der Publikation "Österreich 1933-1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime", die mit der interdisziplinären Arbeit von Historikern und Juristen mögliche Antworten auf diese offenen Fragen bieten soll. Das Buch wurde Montag Abend in der Bibliothek der Arbeiterkammer Wien präsentiert.

In Wissenschaft, Politik und Bevölkerung besteht weitgehender Konsens über die Befürwortung des "Anschlusses" im März 1938 an das Deutsche Reich sowie über die Mitverantwortung am nationalsozialistischen Terrorregime durch beträchtliche Teile der österreichischen Bevölkerung. Ein solcher Konsens "fehlt sowohl auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene hinsichtlich des Charakters des Dollfuß-/Schuschnigg-Regimes der Jahres 1933-38", schreiben die Herausgeberinnen Reiter-Zatloukal, Christine Rothländer und Pia Schölnberger in ihrem Vorwort.

Aufweichung der Rechtsschutzmöglichkeiten

Dabei habe man versucht, einen interdisziplinären Zugang zu verfolgen und die Positionen von Historikern und Juristen nebeneinanderzustellen. "Da gibt es einfach einen ganz anderen Blick", erklärte Reiter-Zatloukal, die am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien lehrt, den Ansatz des Buches. Juristisch umstritten sei etwa die Frage der Rechtsstaatlichkeit des Regimes. Betrachte man es rein formal und sehe hauptsächlich auf die Verfassung, ergebe sich ein ganz anderes Bild, als der Blick auf die Verordnungsebene und die Rechtspraxis es zeigen.

Das Justizsystem des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes sei etwa durch die Aufweichung der Rechtsschutzmöglichkeiten stark beschädigt worden, so Reiter-Zatloukal im Gespräch. So war zwar die Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit der Richter in der Verfassung festgehalten, diese wurde jedoch vorübergehend aufgehoben: "Und ein Rechtsstaat mit absetzbaren Richtern ist sehr problematisch", so die Rechtshistorikerin.

In dem Buch werden aber noch viele andere Fragestellungen aufgeworfen und neu beleuchtet. So nimmt etwa der Jurist Helmut Wohnout eine Neubewertung der Verfassung 1934 vor, neben "Wirtschaft und Arbeit" widmet die Publikation unter anderem auch der "Geschlechterpolitik" sowie den "Rehabilitierungen" eigene Kapitel. Reiter-Zatloukal selbst beschäftigte sich mit der Aufarbeitung der Oppositionsbekämpfung des Regimes, die sich etwa in politisch motivierten Ausbürgerungen und Vermögensentzug äußerte.

Riesiger bürokratischer Apparat für Vermögenskonfiskation

Dabei sei häufig mit unglaublichem Aufwand, aber wenig Ergebnis vorgegangen worden. "Das war auch der Versuch, eine gewisse Rechtsstaatlichkeit zu wahren, der Akt musste gut ausschauen", erklärte Reiter-Zatloukal. Das Regime habe unter anderem den Plan entworfen, Häftlinge selbst für ihre Anhaltekosten aufkommen zu lassen. "Da wurde ein riesiger bürokratischer Apparat für Vermögenskonfiskation aufgebaut, dabei hatten die Leute in der Regel gar kein Vermögen mehr. Unterm Strich hat da gar nichts herausgeschaut." Dafür sei in den Akten jede Unterhose akribisch vermerkt worden.

"Die Behördentätigkeit war auch von unglaublicher Willkür getragen", so die Rechtshistorikerin. Als Beispiel nennt sie die Durchführung von politisch motivierten Ausbürgerungen. Zudem gestalte sich die Unrechtsbewertung der Maßnahmen des Regimes schwierig: So werde etwa immer wieder diskutiert, inwieweit die Maßnahmen des Regimes tatsächlich notwendig und angemessen gewesen seien, um den Nationalsozialismus einzudämmen, so Reiter-Zatloukal. "Hauptfeind war damals klar das linke Lager, auch die Sozialdemokratie. Heute wird es oft so dargestellt, als hätte man mit Maßnahmen wie der Ausrufung des Notstandes nur den Nationalsozialismus verhindern wollen", meinte die Rechtshistorikerin. Bewusst wollten die Herausgeberinnen jedoch die Begriffsdiskussion im Spektrum zwischen Austrofaschismus und autoritärem Ständestaat vermeiden. "Da gibt es klar abgesteckte Fronten, diese Diskussion finde ich daher momentan sehr unspannend." (APA, 3.12.2012)