Andreas Khol: Bitte keine weitere "Statistik-Reform"!

Foto: Andy Urban

Bild nicht mehr verfügbar.

"Das Tragische an der Datendebatte: Sie wird auf dem Rücken der wirklich Hilfsbedürftigen geführt."

Foto: apa

Wie kann man Armut messen? Legt man in Österreich die berühmte Grenze von 60 Prozent des Median-Einkommens an, so sind automatisch alle Ausgleichszulagenbezieher "arm". Faktum ist: In den vergangenen 20 Jahren haben wir diese sogenannte Mindestpension um 72,5 Prozent angehoben, die Teuerung im selben Zeitraum lag bei 49,2 Prozent. Warum diese Einkommen dennoch unter der Armutsgrenze liegen? Weil das Medianeinkommen deutlich angestiegen ist und weil zwar alle Sozialtransfers, nicht aber Befreiungen und Zuschüsse (z. B. für Miete, Heizkosten) berücksichtigt werden. Betroffen: 641.000 Menschen unter dieser Grenze, davon 238.242 (2011 gesunken auf 234.671) Ausgleichszulagenbezieher.

Weil diese Einkommensgrenze alleine kein treffendes Bild zeichnen kann, wurde eine Liste mit Merkmalen erstellt. Auf EU-Ebene geht das so: Wer zumindest vier der nachfolgend gelisteten neun Kriterien "erfüllt" gilt als armutsgefährdet. Die Kriterien: Es bestehen Zahlungsrückstände bei Miete, Betriebskosten oder Krediten. Es ist finanziell nicht möglich, unerwartete Ausgaben von 950 Euro zu tätigen - einmal im Jahr auf Urlaub zu fahren - die Wohnung angemessen warm zu halten - jeden zweiten Tag Fleisch oder Fisch zu essen. Und: Ein Pkw - eine Waschmaschine - ein Farbfernsehgerät - ein Telefon oder Handy ist finanziell nicht leistbar.

Das Ergebnis: Niemand kann sich in Österreich ein Farbfernsehgerät, eine Waschmaschine oder ein Telefon nicht leisten. Zwei Prozent können ihre Wohnung nicht angemessen heizen. Drei Prozent müssen auf das Auto verzichten. Vier Prozent waren schon einmal in Zahlungsrückständen. Sechs Prozent können sich nicht regelmäßig Fleisch leisten. 19 Prozent können nicht ein Mal jährlich auf Urlaub fahren. Und 22 Prozent können unerwartete Ausgaben von 950 Euro nicht problemlos decken. Insgesamt vier Prozent der Bevölkerung erfüllten zugleich vier dieser Kriterien, wären also demnach als armutsgefährdet zu bezeichnen.

Das war den Österreichischen Armutsrechnern zu wenig. Eine neue Definition musste her! Man strich alle Kriterien, die in Österreich niemanden betreffen (TV, Waschmaschine, Telefon) und man strich die Frage nach dem jährlichen Urlaub. Hinzu kamen dafür drei neue Kriterien: Leistbarkeit nötiger (Zahn-) Arztbesuche und die Möglichkeit, Freunde oder Verwandten nicht zumindest einmal im Monat zum Essen einzuladen, man kann sich keine neue Kleidung kaufen. Wer nur ein oder zwei dieser Kriterien erfülle, sei in Österreich armutsgefährdet.

Das Ergebnis: Plötzlich waren zusätzlich hunderttausende Menschen in Österreich "von Armut betroffen", man spricht von einer Summe von 1,4 Millionen.

Die Tragödie an dieser Debatte: Sie wird auf dem Rücken der wirklich Hilfsbedürftigen geführt. Ich habe den Bericht zur Armuts- und Ausgrenzungsgefährdung sehr genau gelesen und nehme daraus mit:

Die Zahl der von Armut betroffenen Menschen ist - leider -gleichbleibend, höchstens leicht sinkend. Wer alleine in einem Haushalt lebt, wer alleine ein Kind erzieht oder zu zweit mehr als zwei Kinder, wer an einer (chronischen) Krankheit leidet, wer bloß über einen Pflichtschulabschluss verfügt, wer weniger als 20 Stunden in der Woche arbeitet bzw. nicht das ganze Jahr über arbeitet, ist stärker von Armut bedroht als andere. Dies sind die Punkte an denen wir mit der nötigen Hilfe ansetzen sollten. Eine weitere "Statistik-Reform" wird nicht helfen. (Andreas Khol, DER STANDARD, 5.12.2012)