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Eine von Abermillionen Protonen-Kollisionen am Cern, bei der vier hochenergetische Elektronen (in Grün und Rot) beobachtet wurden.

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Rolf-Dieter Heuer: "Natürlich sind die Energien des LHC nicht so hoch wie beim Urknall. Aber die Energiedichte ist durchaus vergleichbar."

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STANDARD: War 2012 das spannendste Jahr Ihrer wissenschaftlichen Karriere?

Heuer: Ja, das war es. Wenn man das Higgs-Teilchen entdeckt, nach dem fast 50 Jahre gesucht wurde: Das ist schon etwas Einmaliges.

STANDARD: Was tut das Higgs-Teilchen?

Heuer: Das Higgs-Teilchen verleiht den Bausteinen der Materie ihre Masse. Würde es nicht existieren, würden alle fundamentalen Teilchen - zum Beispiel Quarks und Elektronen - mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum fliegen. Mit anderen Worten: Das Higgs-Boson ist eine der wesentlichen Grundlagen dafür, dass wir physikalisch existieren können.

STANDARD: Warum hat es so lange gedauert, bis es nachgewiesen wurde?

Heuer: Erstens benötigt man sehr hohe Energien für diesen Nachweis. Zweitens ist die Wahrscheinlichkeit, Higgs-Teilchen durch Kollisionen von Protonen herzustellen, sehr gering.

STANDARD: Wie viele Kollisionen benötigt man, um ein Teilchen zu erzeugen?

Heuer: Mindestens zehn Milliarden Kollisionen. Um den Nachweis statistisch abzusichern, benötigt man aber noch viel mehr, nämlich 1000 Billionen.

STANDARD: Wie viele schaffen Sie am Cern pro Tag?

Heuer: An guten Tagen ungefähr 15 Billionen.

STANDARD: Der Nachweis des Higgs-Teilchens gelang mit dem Teilchenbeschleuniger des Cern - der größten und wohl auch kompliziertesten Maschine der Welt. Vertrauen Sie dem Ergebnis?

Heuer: Absolut. Wir haben die Technik und Software jahrelang mit bekannten physikalischen Prozessen geprüft.

STANDARD: Können Sie ausschließen, dass in der Nachweiskette Fehler passiert sind, so wie es kürzlich bei Messungen von vermeintlich überlichtschnellen Neutrinos der Fall war?

Heuer: Ja, denn der Nachweis gelang mit zwei eigenständigen Experimenten mit jeweils unterschiedlichen Methoden. Kurz vor Verkündigung der Entdeckung am 4. Juli wussten nur vier Personen über die Ergebnisse Bescheid: Mein Forschungsdirektor, ich selbst sowie die zwei Leiter der beiden Kollaborationen. Das war ein unabhängiger Cross-Check.

STANDARD: Die "Supersymmetrietheorie", kurz Susy, könnte das bislang übliche Standardmodell ablösen. Was ist das Neue an Susy?

Heuer: Susy führt für jedes Teilchen des Standardmodells ein zusätzliches supersymmetrisches Teilchen ein. Das Elektron hätte demnach einen supersymmetrischen Partner, ebenso die Quarks. Das sind aber alles hypothetische Teilchen. Die Situation ist vergleichbar mit den 1930er-Jahren. Damals hat der britische Physiker Paul Dirac die Antimaterie postuliert, also ein Antiteilchen für jeden bekannten Materiebaustein. Das war zunächst eine reine Hypothese - allerdings hat der Nachweis nur drei Jahre gedauert. Der Charme der Supersymmetrietheorie liegt darin, dass sie drei der vier Grundkräfte - nämlich Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft - bei hohen Energien, wie etwa zum Zeitpunkt des Urknalls, vereinigen kann.

STANDARD: Historisch gesprochen: Am Anfang war die Urkraft?

Heuer: Davon gehen wir aus. Die Kräfte haben sich erst im Laufe der Zeit getrennt. Noch ein Vorteil von Susy: Das supersymmetrische Teilchen mit der niedrigsten Masse könnte stabil sein. Das könnte die lange gesuchte dunkle Materie sein, die wir unter anderem benötigen, um die Bewegungen der Galaxien erklären zu können.

STANDARD: Nachdem nun der letzte ausständige Baustein des Teilchenzoos entdeckt wurde - gibt es eine "neue Physik" des Standardmodells?

Heuer: Es muss sie geben, denn das Standardmodell lässt extrem viele Fragen offen. Die Zahl der Raumdimensionen, das Überwiegen von Materie gegenüber Antimaterie, dunkle Energie, dunkle Materie - all das können wir mit dem Standardmodell nicht erklären. In meinen Vorträgen mache ich meist folgenden Vergleich: Newtons Mechanik ist eine Näherung der relativistischen Mechanik für niedrige Geschwindigkeiten. Sobald die Geschwindigkeiten höher sind, brauchen wir Einstein statt Newton. Das Standardmodell ist wiederum eine Niedrigenergienäherung jener Theorie, die wir um das Standardmodell bauen müssen.

STANDARD: Was sagen uns die Versuche am Cern über den Kosmos?

Heuer: Sie können etwas über den Zustand kurz nach dem Urknall aussagen. Natürlich sind die Energien des Teilchenbeschleunigers LHC nicht so hoch wie beim Urknall. Aber die Energiedichte, also die Energie pro Fläche, ist durchaus vergleichbar. Wenn man mutig ist, kann man bis zur Geburtsstunde des Universums zurückrechnen, sofern man ein passendes Modell hat.

STANDARD: Was ist am Cern in den nächsten Jahren geplant?

Heuer: Bis 17. Dezember führen wir noch Protonenkollisionen durch. Nach der Weihnachtspause machen wir vier Wochen lang Experimente mit Schwerionen. Dann schließen wir den LHC zwei Jahre - also bis Ende 2014, weil er für höhere Energien überarbeitet wird. Bis 2030 sind Versuche auf einem Energielevel von bis zu 14 Teraelektronenvolt geplant (derzeit sind es bis zu acht, Anm.). (Robert Czepel, DER STANDARD, 05.12.2012)