STANDARD: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch darüber zu schreiben, dass zu viele Wahlmöglichkeiten Menschen unglücklich machen?
Kast: Ich war auf einer Grillparty mit sechs, sieben Leuten. Eine junge Frau hatte gerade Schluss gemacht mit ihrem Freund. Der Grund: Sie wollte Kinder, er nicht. Daraufhin entzündete sich eine Diskussion bei uns darüber, wie man Familie und Job unter einen Hut bringen kann. Es stellte sich heraus, dass fast jeder von uns mit dem Thema zu kämpfen hatte.
Das fand ich spannend, denn die Frage Beruf oder Familie ist ja eine Wahlmöglichkeit, die frühere Generationen nie hatten. Trotzdem macht uns die Situation unglücklich. Ich fing also an, mich in die Sache zu vertiefen, und stellte bald fest, dass es Studien gibt, die offenbaren, dass Auswahl nur bis zu einem gewissen Punkt glücklicher macht. Wir sind nicht zuletzt unzufrieden, weil wir so viele Möglichkeiten habe.
STANDARD: Sie führen in Ihrem Buch viele Beispiele als Beleg an.
Kast: Das simpelste handelt von Süßigkeiten: Dürfen wir zwischen sechs verschiedenen Schokoladensorten wählen, sind wir am Ende ziemlich zufrieden mit unserer Wahl, bei mehr als zehn Sorten jedoch schlägt das Ganze bereits um - die Trauer darüber, dass wir mit unserer Wahl auf so viele andere Sorten verzichten müssen, nimmt überhand.
STANDARD: In der Regel gilt, dass ein Mensch umso mehr Wahlmöglichkeiten hat, je reicher er ist. Heißt das, Reiche sind tendenziell unglücklicher?
Kast: Reiche Gesellschaften sind im Allgemeinen sicher glücklicher. Reiche Gesellschaften sind demokratischer, meistens freier und politisch stabiler. Aber trotzdem, es gibt Befragungen zum Wohlbefinden, die zum Beispiel zeigen, dass Österreich die gleichen Glückswerte aufweist wie El Salvador, obwohl dieses Land zehnmal ärmer ist. Was man bei diesen Umfragen auch immer sieht, ist, dass reiche Menschen innerhalb einer Gesellschaft glücklicher sind als arme Menschen. Das ist der Ausgangspunkt. Zugleich zeigen solche Umfragen regelmäßig, dass Geld regelmäßig die soziale Distanz erhöht und daher unglücklich macht.
STANDARD: Warum erhöht Geld die Distanz?
Kast: Weil sich mit Geld Dinge regeln lassen, für die man ansonsten soziale Bindungen braucht. Denken Sie nur an die Versorgung älterer Menschen: Während diese in ärmeren Ländern von ihren Familien versorgt werden, vegetieren in den Industriestaaten viele alte Menschen in Pensionistenheimen vor sich hin. Die Distanz ist dabei umso größer, je reicher die Menschen sind.
Forscher haben sich an Zebrastreifen gestellt, um zu sehen, welche Wagen anhalten und welche nicht. Der Befund: je teurer das Auto, desto asozialer der Fahrer. Wer einen dicken BMW fährt, gibt eher noch einmal Gas. Der Grund liegt darin, dass Geld unabhängig macht. Je reicher jemand ist, umso weniger ist er von der Sympathie der Mitmenschen abhängig, um Hilfe zu bekommen. Reiche Menschen können es sich einfach leisten, eine Spur asozialer zu sein.
STANDARD: Aber läuft man nicht sehr schnell Gefahr, mit so einer These Armut zu bagatellisieren und zu romantisieren?
Kast: Doch, und das ist bedauerlich. Dass Armut etwas Schreckliches ist, erscheint mir selbstverständlich. Geld hat natürlich auch unglaublich viele positive Effekte hat. Reichtum führt im Großen und Ganzen zu mehr Glück, zugleich aber auch zu mehr Stress und Phänomenen wie Einsamkeit und Isolation.
Sobald es um den Körper geht, leuchten uns diese Nebenwirkungen sofort ein: Hungern ist grausam, und doch heißt das nicht, dass umgekehrt Überfluss für den Körper ein einziger Segen wäre. Man denke nur an Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes. So gibt es auch Zivilisationskrankheiten der Psyche, die in wohlhabenderen Gesellschaften öfters vorkommen: Einsamkeit, Stress, Burnout - solche Sachen. Dabei geht es nicht darum, die Armut zu verherrlichen - so wie jemand, der über die gesundheitlichen Gefahren von Übergewicht berichtet, sich auch eine Hungersnot herbeisehnt.
STANDARD: Laut Ihrer These müsste ein armer Mensch, der im Winterurlaub nur zu Hause im grauen Wien bleiben kann, glücklicher sein als ein Reicher, der zwischen einer Reise auf die Malediven oder auf die Seychellen wählen kann.
Kast: Wenn man Reichtum nur auf diese Frage reduzieren könnte, würde ich sogar sagen, der Reiche hat es in diesem Fall schwerer, sich zu entscheiden, und wenn er eine der Reisen antritt, kann es wirklich gut sein, dass er später tendenziell unglücklicher ist, weil er auf so viel verzichten musste.
STANDARD: Das klingt unrealistisch.
Kast: Es gibt eine Studie, in deren Rahmen einigen Probanden Geldscheine gezeigt wurden und anderen nicht, beide Gruppen bekamen dann Schokolade zu essen. Einige Zuschauer, die nicht mitbekommen hatten, wer Geld gesehen hat und wer nicht, sollten den Prozess bewerten. Es hat sich gezeigt, dass diejenigen, die Geldscheine gesehen haben, nach Urteil der Beobachter die Schokolade runtergeschlungen haben. Sie konnten sie weniger genießen.
Die Erklärung war, dass allein der Anblick von Geld bei Menschen den Fantasie rahmen erhöhen kann. Schokolade ist nicht mehr so viel wert, wenn man sich vorstellt, dass man mit dem Geld in einem Fünf-Sterne-Restaurant sitzen könnte. Die einfachen Dinge des Alltags werden durch Reichtum entwertet. Und ich glaube, jeder kennt dieses Phänomen: Wenn man auf einen Berg geht und hungrig ist und noch zufällig ein kleines Stück Schokolade dabeihat, genießt man sie viel mehr, als wenn man zu Hause beim Nichtstun eine ganze Tafel in sich reinstopfen kann.
STANDARD: Wenn Sie sagen, zu viel Angebot macht unglücklich: Wie kann man Abhilfe schaffen? Heißt das, die Einkaufszentren sollten sich dringend verschlanken?
Kast: Die Abhilfe kann wohl nur aus einem selbst kommen, ich wünsche mir jedenfalls keine DDR herbei. Ein Beispiel: Manche Leute stehen aus verschiedenen Gründen auf Bio-Essen. Das kann man albern finden. Man kann es auch als Strategie sehen, mit dem zunehmenden Überangebot fertigzuwerden: Jetzt kommt eben nur noch eine gewisse Vorauswahl infrage. Grundsätzlich gilt, wer starke Vorlieben hat, hat es in einer Überflussgesellschaft leichter: Er interessiert sich nicht mehr für das Gesamtangebot, sondern nur noch für einen überschaubaren Teil.
Zwischenmenschliche Bindungen können auch helfen. Wer sich jeden Freitagabend mit seinen Pokerfreunden trifft, muss sich nicht mehr jeden Freitagabend durch das Gesamtangebot all dessen quälen, was einem die Stadt zu bieten hat - das Freundesritual bestimmt und nimmt einem die Entscheidung ab. Zwischenmenschliche Bindungen befreien vom Überangebot da draußen und wirken nicht zuletzt auf diese Weise beglückend.(András Szigetvari, Portfolio, DER STANDARD, 5.12.2012)