Rio de Janeiro/Wien - Er war an den beiden schönsten Buchten der Welt daheim. Seine Wohnung lag in Ipanema, das Büro befindet sich an der Küstenstraße der Copacabana, erste Reihe fußfrei mit Blick auf das Meer. Bis vor wenigen Wochen saß er noch regelmäßig am Schreibtisch und skizzierte weiche, wellenförmige Gebilde aufs Papier. „Der rechte Winkel gefällt mir nicht", sagte er. „Es sind die freien und sinnlichen Kurven, die ich im Wasser, in den Wolken des Himmels und im Leib einer geliebten Frau finde, die mich anziehen."
Vorgestern, Mittwoch, ist der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer im Alter von 104 Jahren - nur zehn Tage vor seinem 105. Geburtstag - in Rio de Janeiro gestorben.
Niemeyer, der an der Nationalen Hochschule der Schönen Künste in Rio studierte und seit 1934 im Berufsleben stand, war nicht nur einer der einflussreichsten Architekten der Welt, sondern auch der letzte noch lebende Vertreter der internationalen Moderne. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen, die mit ihren Entwürfen immer wieder schockierten, verstand Niemeyer es jedoch, die Menschen für seine Bauten zu begeistern. Niemand verpasste dem gegossenen Beton eine so kühne Leichtigkeit wie er.
Unter den mehr als 600 realisierten Bauwerken und Stadtplanungen befinden sich das UNO-Headquarter in New York (1947, in Zusammenarbeit mit Le Corbusier), das Wohnhochhaus Edifício Copan in São Paulo (1951), zahlreiche Universitätsbauten in Brasilien, Israel, Algerien und Kuba, das Museum für zeitgenössische Kunst in Niterói (2001), das Auditorium in Ravello an der Amalfiküste in Italien (2010) sowie das erst letztes Jahr fertig gestellte Kulturzentrum im spanischen Asturias.
Die große Stunde schlug Niemeyer, als Brasiliens Staatspräsident Juscelino Kubitschek 1956 verkündete, den lange Zeit gehegten Traum einer neuen brasilianischen Hauptstadt in der geografischen Mitte des Landes endlich Realität werden zu lassen. Mehr als 5.500 Architekten aus aller Welt nahmen damals am städtebaulichen Wettbewerb teil. Lúcio Costas kühner Grundrissentwurf eines nach Osten aufsteigenden Vogels beziehungsweise Flugzeugs überzeugte den Präsidenten.
Während Costa für den Masterplan verantwortlich zeichnete, entwarf sein engster Freund Niemeyer einige der bedeutendsten Bauwerke für das neue Brasília. Die Bauarbeiten begannen im Februar 1957. Mitten in der brasilianischen Steppe wurden Straßen asphaltiert, Zuggleise verlegt sowie Parlamentsgebäude, Ministerien, Museen, Kirchen und ganze Wohnquartiere errichtet. 30.000 Bauarbeiter waren Tag und Nacht beschäftigt. Rund um die Präsidentenresidenz „Palácio da Alvorada", die mit ihren filigranen, auf und ab gleitenden, parabelförmigen Säulen zu Niemeyers schönsten Gebäuden zählt, wurde sogar ein künstlicher See ausgebaggert.
Am 21. April 1960, nach nur vier Jahren Bauzeit, fand die feierliche Eröffnung Brasílias statt. Obwohl sich die brasilianische Bevölkerung mit der neuen Hauptstadt lange Zeit nicht anfreunden konnte, gilt Brasília seit dem ersten Tag ihres Bestehens als Meisterwerk gebauter Moderne. 1987 wurde die Stadt, in dessen Ballungsraum heute mehr als vier Millionen Menschen leben, zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt.
„Das Experiment Brasília war nicht erfolgreich", wird Niemeyer später selbstkritisch erklären. Anders als er sich erträumt hatte, konnte sich das Volk die Wohnungen in den Superquadras mit ihren sorgfältig geplanten Kindergärten, Schulen und Geschäften bald nicht mehr leisten. Nach dem Militärputsch 1964 ergriffen die Diktatoren die Macht, die Gebäude wurden privatisiert, und die ursprünglich sozial gerechte Planstadt mutierte nach nur wenigen Jahren zu einem leblosen Monument.
Glaube an die Schönheit
1966 geht Niemeyer wegen seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Brasiliens ins Exil. 20 Jahre lang lebt er in Paris, wo er unter anderem die Zentrale der Französischen Kommunistischen Partei plant. Er entwirft Möbel und ist in Kleinasien und Nordafrika mit der Errichtung öffentlicher Bauten beschäftigt. „Die Kommunisten sind die einzigen, die immer noch eine bessere Welt schaffen wollen", sagt er. Zurück in Brasilien ist Niemeyer vier Jahre lang sogar Präsident der Brasilianischen Kommunistischen Partei (PCB).
Der flotten, kühnen Linie bleibt Oscar Niemeyer, der 1988 mit dem renommierten Pritzker-Preis für Architektur ausgezeichnet wird, bis zu seinem allerletzten Projekt treu. Sein Leitsatz „Die Architektur besteht aus Traum, Fantasie, Kurven und leeren Räumen" bezieht sich nicht immer nur auf Immobiles: Für den Sportschuh-Hersteller „Converse" entwarf er heuer eine eigene Produktlinie, die erst vor wenigen Wochen auf den Markt gebracht wurde: Rauleder, Stoff und rote Naht.
Das Kapitel „Architektur der Moderne" ist nun abgeschlossen. Oscar Niemeyer starb gestern an den Folgen von Nieren- und Atemproblemen im Krankenhaus Samaritano in Rio de Janeiro. Sein Leichnam wird seit gestern in dem von ihm geschaffenen Präsidentschaftspalast in Brasília aufgebahrt. Sergio Cabral, Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro, rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Heute, Freitag, finden die Beerdigungsfeierlichkeiten statt. Niemeyer hinterlässt ein Erbe an atemberaubenden Betonskulpturen aus acht Jahrzehnten sowie einen ungebrochenen Glauben an die Schönheit der gebauten Welt. (Wojciech Czaja/DER STANDARD, 7./8./9.12.2012)