"Politik ist wie Popmusik, voller Lügen und Enttäuschungen", sagt der Dichter Franzobel: Statt der freien Gesellschaft gibt es Gammelfernsehen und Einkaufscenter als Lebensinhalte.

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STANDARD: Sind Sie ein Wutbürger?

Franzobel: Nein, ein Zornbürger. Wut hat etwas Kleines, Zorn etwas Großes, Göttliches: Eine berechtigte Emotion über Missstände in der Welt, wenn einem, wie man in Wien sagt, das G'impfte aufgeht.

STANDARD: Und wann passiert das?

Franzobel: Wenn Leute von Konzernen, Banken oder Politikern - es gibt kein passenderes Wort - verarscht werden. Wenn die Substanz zerstört wird, damit Einzelne Geld verdienen. Jeder in Südtirol weiß zum Beispiel, dass man dort keine Äpfel essen darf, weil die sechsmal im Jahr gespritzt werden - trotzdem wird ganz Europa damit beliefert. Oder: Viele Unternehmen schöpfen pervers hohe Gewinne ab, während sie gleichzeitig Leute entlassen. Wenn dann die bis zur Substanzlosigkeit niederrationalisierte Firma zusammenkracht, sind jene, die kassiert haben, längst weg. Das natürliche Gleichgewicht geht verloren.

STANDARD: Unterschreiben Sie deshalb so viele Attac-Manifeste?

Franzobel: Mir gefällt die Idee eines überparteilichen Korrektivs zum Kapitalismus. Es soll schon Anreize geben, damit sich der eine mehr erarbeiten kann als der andere, aber gleichzeitig muss der Staat dafür sorgen, dass Reiche nicht noch reicher werden. Ich verstehe von Wirtschaft wenig, aber von DKT habe ich gelernt, dass immer der gewinnt, der als Erster Hotels besitzt. Daher muss, wer zu viel hat, durch Umverteilung eingebremst werden, sonst haben Ärmere keine Chance. Nur eine offene, nicht verkrustete Gesellschaft, in der auch für Migrantenkinder eine Universitätskarriere möglich ist, entwickelt sich. Das ist zwar nicht im Interesse der Besitzenden, aber notwendig, um längerfristig nicht an der Dekadenz zu kollabieren.

STANDARD: Hat die Politik bei der Korrektur versagt?

Franzobel: Ich war sehr zornig, als eine sozialdemokratisch geführte Regierung die Erbschaftssteuer abgeschafft hat. Vielleicht braucht es wieder einen Sputnik-Schock. Es heißt ja, die vielen Arbeiterkinder verdanken ihren Zugang zur Bildung auch dem Umstand, dass die Sowjets 1957 als Erste einen Satelliten ins All schossen, worauf die Amerikaner mit einer breiten westlichen Bildungsoffensive reagierten. Derzeit steuern wir aber nicht auf eine sozial gerechte, sondern auf eine russische Gesellschaft zu: ein bis zwei Prozent Superreiche, für die weitere zehn Prozent arbeiten. Alle anderen sind Unterschicht und leben unter der Armutsgrenze. Die Krise wird in ganz Europa als Vorwand benutzt, um den Leuten ein hartes Sparprogramm reinzuwürgen.

STANDARD: Im beschaulichen Österreich wirkt dieses Szenario fern. Es gibt Sparpakete und mehr Arbeitslose, aber brutaler Sozialabbau fand in der Krise nicht statt.

Franzobel: Bislang nicht, Gott sei Dank. Meine Generation hat Glück gehabt: Kein Krieg, dafür Wohlstand und Bildung. An Griechenland und Spanien zeigt sich aber, wie schnell das kippen kann. Horrende Arbeitslosenzahlen, Delogierungen, Verelendung. Die Angst davor sitzt auch bei uns schon in den Köpfen. Erst der Terror, jetzt die Krise. Es ist die gleiche Angst, die verhindert, dass die Leute im reichen Österreich besonders glücklich wären. Jedes Mal, wenn ich aus dem Ausland heimkomme, beschleicht mich das Gefühl, hier regieren Grant, Neid und Missgunst - da verfliegt jegliche Leichtigkeit. Die Leute wirken wie zwischen zwei elektrisch geladenen Drähten.

STANDARD: Glauben Sie da noch an die Veränderungskraft von Politik?

Franzobel: Wenig. Damit Politik funktioniert, braucht es, wie schon Rudi Dutschke wusste, eine Öffentlichkeit. Ich will nicht von Verblödung reden, aber was soll herauskommen, wenn sogar das neue ORF-Programm RTL 2 kopiert, anstatt sich an Arte zu orientieren? Wie sollen Menschen da von Politik mehr als Reizworte verstehen? Mich schockiert, dass Frank Stronach mit demokratiepolitisch bedenklichen Aussagen in Umfragen bei 15 Prozent liegt.

STANDARD: Die Medien färben also auf die Politik ab?

Franzobel: Wenn Medien jede Woche Rankings der Wählergunst abdrucken, verstehe ich, dass Politiker der Eitelkeit erliegen und sich daran orientieren. Es gibt ja kaum noch Persönlichkeiten oder Visionen, die über die Legislaturperiode und das eigene Bankkonto hinausgehen. Die meisten sind NLP-geschult und sprechen nach, was PR-Berater vorsagen. Einen Satz höre ich in der Politik viel zu selten: "Ich habe keine Ahnung und muss mich erst informieren."

STANDARD: Gehen Sie noch wählen?

Franzobel: Ja, aber ich werde hoffnungsloser. In Österreich gibt es so viel Korruption, dass man sich fast mitschuldig fühlt. Es fehlen Ideale. Selbst bei der US-Wahl - ich war natürlich für Obama - war die realpolitische Differenz zu den Republikanern überschaubar. Politik ist wie Popmusik, voller Lügen und Enttäuschungen. Als ich ein Kind war, waren alle Erwachsenen Hippies. Es schien sicher, dass wir auf eine freie Gesellschaft mit vielen offenen Bewusstseinseinheiten zusteuern. Doch das ist nicht eingetroffen.

STANDARD: Warum?

Franzobel: Die größte Katastrophe des ausgehenden 20. Jahrhunderts war das Privatfernsehen. Es hat alles nach unten nivelliert. Ich bin am Land mit proletarischem Hintergrund aufgewachsen. Früher hat die Gewerkschaft Bildungsreisen für Arbeiter veranstaltet, Besuche in Theatern und Galerien - Ähnliches gab es vonseiten der Kirche. Arbeiterbibliotheken, Pfarrbibliotheken, Esperanto. Ziel war eine Weltöffnung, die Schaffung von Persönlichkeiten. Heute geht es nur noch um Unterhaltung und Konsum. Fußball, Gammelfernsehen, Sozialpornos. Für viele Leute scheint das Einkaufscenter Lebensinhalt zu sein. Leben, um zu shoppen - das ist wahre Perversion. Dazu kommt Facebook, Orwells Big Brother, aber auf freiwilliger Basis. Genial - aus Sicht der CIA.

STANDARD: Muss man sich als Schriftsteller politisch einsetzen?

Franzobel: Nein, muss man nicht, aber ich nutze dann und wann die Freiheit, öffentlich die Meinung sagen zu können. Jeder andere, der in einem System steckt, kriegt ja von oben eine auf den Deckel, sobald er die Papp'n aufmacht. (Gerald John, DER STANDARD, 7./8./9.12.2012)