Justine Ocaya in seinem provisorischen Krankenhaus in der Nähe von Gulu im Norden Ugandas. Hier verteilt der Arzt Medikamente und untersucht Kinder, die am Nicksyndrom leiden.

Foto: Tobias Müller

Kampala/Wien - Als Iran Oyet elf war, fing das Nicken an. Wenn seine Mutter ihm das Essen brachte, begann der Bub plötzlich, mit dem Kopf zu wackeln, zuerst nur leicht, dann immer schlimmer, am Ende nickte er bis zu fünfmal pro Minute. Er bekam Krämpfe, wand sich und stürzte zu Boden. Als er schließlich aufhörte zu sprechen, ging seine Mutter mit ihm erstmals zum Arzt.

Heute ist Oyet 15. Er schweigt immer noch. Sein Blick ist leer, er sitzt mit aufgeplatzter Lippe im Spital, über dem Auge hat er einen großen Bluterguss. Erst am Morgen hatte er wieder einen Anfall und ist mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen.

Regelmäßig epileptische Anfälle

Oyet lebt mit seiner Mutter in der Nähe von Gulu im Norden Ugandas. Seit einigen Jahren breitet sich hier eine seltsame Krankheit aus: Sie ist nicht heilbar, und sie befällt fast nur Kinder zwischen zwei und 15 - Oyet ist eines von ihnen. Die Ärzte haben sie "Nodding Syndrome" getauft, die Nickkrankheit, nach dem auffälligsten Symptom, das die Patienten zeigen: unkontrolliertes Nicken mit dem Kopf. Ausgelöst wird es oft durch den Anblick von Essen oder durch Kälte.

Betroffene erleiden regelmäßig epileptische Anfälle, bei schwereren Fällen wird wohl das Gehirn geschädigt: Sie werden stumm und entwickeln sich geistig zurück - weil sie beim Anblick von Essen stets kollabieren, sind sie unterernährt. Was die Krankheit auslöst und woher sie gekommen ist, weiß bisher niemand. Sicher ist nur: Vor fünf Jahren war sie plötzlich da, seither breitet sie sich immer weiter aus.

2007 erstmals in Norduganda aufgetreten

"Mein Großvater hat in dieser Gegend gelebt, mein Vater und nun ich, aber nie hat es das Nicksyndrom hier gegeben", sagt Justine Ocaya, "ich verstehe es einfach nicht." Dabei tut Ocaya seit fünf Jahren wenig anderes, als genau das zu versuchen. 2007 trat die Nickkrankheit erstmals in Norduganda auf, seither erforscht er sie. Ocaya ist Arzt und behandelt etwa 1000 Patienten mit Nickkrankheit, etwa 3000 sollen in der Gegend insgesamt betroffen sein.

Baracke als Krankenhaus

Das Spital, in das sie zur Behandlung kommen, ist eine Baracke an der Straße zwischen Gulu und Kitgum kurz vor der Grenze zum Südsudan. Dicht gedrängt sitzen hier dutzende Kinder und ihre Eltern auf dem Boden, die Luft reicht kaum zum Atmen, sie ist heiß und stinkt nach Schweiß. Stundenlang müssen Patienten und Angehörige ausharren, bis sie untersucht werden oder ihre Medikamente bekommen.

Warum die Kinder hier krank geworden sind, darüber gibt es bisher nur Spekulationen: Schuld sei der lange Bürgerkrieg, meinen manche Einheimischen. Die Geister der Verstorbenen seien zurückgekehrt, um sich zu rächen. Wissenschafter geben die Schuld eher der Kriebelmücke, die in den Stromschnellen des Flusses Aswa ihre Eier legt: Fast alle Fälle sind entlang des Flusses aufgetreten.

Keine Beweise

Die Forscher vermuten daher, dass die Fliege Träger eines Parasiten ist, der das Gehirn seiner Opfer angreift und so zum Nicksyndrom führt. Bewiesen ist das aber bisher nicht. Die Erforschung der Krankheit geht langsam voran, dem Team fehlen für vieles die Ressourcen.

"Die Regierung hat die Krankheit lange ignoriert", sagt Ocaya. Der Norden Ugandas ist ein Stiefkind, wenn es um die Verteilung von staatlichen Geldern geht: Jaweri Museveni, Ugandas Langzeitpräsident, kommt aus dem Südwesten des Landes, von einem Stamm, der den Acholi, den Bewohnern des Nordens, nicht allzu wohlgesonnen ist.

Straßen unpassierbar

Nur elf Leute arbeiten in Ocayas Krankenhaus, Proben von den Patienten müssen sie in Labors in die mehrere Autostunden entfernte Hauptstadt schicken. Wenn es zu viel geregnet hat, dann sind die Straßen unpassierbar.

Ob die Krankheit tödlich endet oder nicht, ist bisher nicht bekannt - es fehlen noch die Langzeitstudien. Das Nicksyndrom kann jedenfalls auch indirekt zum Tod führen: Die geistig verwirrten Betroffenen reißen oft von zu Hause aus - weil sie wehrlos sind, werden sie von Erwachsenen missbraucht oder verschwinden in der Wildnis. Schon mehrere wurden Wochen später tot gefunden.

Bleibende geistige Beeinträchtigung

Immerhin ist es den Ärzten bereits gelungen, bei den Patienten das Nicken in den Griff zu bekommen: Regelmäßig verabreichen sie ihnen Natriumvalproat, einen Wirkstoff, der sonst zur Behandlung von epileptischen Anfällen benutzt wird. Nach einiger Zeit gehen die Krämpfe zurück. Die geistige Beeinträchtigung aber bleibt.

Derzeit muss sich Oyets Mutter den ganzen Tag um ihn kümmern. Dennoch hofft sie, dass ihr Sohn wieder geheilt werden könnte: Immerhin kann er bereits wieder gelegentlich für sie Wasser holen. (Tobias Müller, DER STANDARD, 14.12.2012)