Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Anti-Morsi-Demonstrant präsentiert Koran und Kreuz. Säkularismus ist kein hoher Wert in Ägypten.

Foto: Reuters/Abdullah

Islam oder nicht Islam, das ist hier die Frage, sollte man meinen: Diese Zusammenfassung der Verfassungsdiskussion vor dem Referendum in Ägypten ist jedoch eigentlich falsch. Ein vom Religionswissenschafter Wolfram Reiss von der Universität Wien betreutes Buch*, frisch auf dem Markt, befasst sich mit der Haltung der Ägypter und Ägypterinnen zum berühmten Artikel 2 der Verfassung, die die Prinzipien der Scharia als "die hauptsächliche Rechtsquelle" festschreibt: Bei einer Umfrage sprachen sich sogar acht von zehn christlichen Klerikern gegen eine Streichung aus, von 40 "Liberalen und Unterstützern eines zivilen Staates" wollten ihn nur elf weghaben. Einen säkularen Staat nach unseren Vorstellungen wollen nur ganz wenige.

Präsident als "Hüter der Moral"

Im Verfassungsentwurf, über den an den beiden kommenden Samstagen abgestimmt werden soll, ist Artikel 2 in unveränderter Form vorhanden. Er ist auch nicht verschärft, wie es viele Salafisten gerne gehabt hätten, die "die Prinzipien der Scharia" - was betont, dass es sich dabei um eine Rechtsethik und kein kodifiziertes Recht handelt - durch "Scharia" ersetzt haben wollten. Das ist also nicht das wirkliche Problem.

Es sind vielmehr die Schwächen, die die Verfassung bei den Rechten beziehungsweise deren Schutz aufweist, sowie die Vollmachten des Präsidenten, der Staat, der sich laut Verfassung als Hüter der Moral aufspielen darf: In einer Gesellschaft auf Islamisierungskurs - und das ist sie nicht erst seit dem Sturz des säkularen Regimes von Hosni Mubarak - werden alle diese Räume islamistisch besetzt werden, zum Nachteil jener, die das nicht wollen.

Warnung der Armee

Unmittelbar vor der Abstimmung regieren in Ägypten zuerst einmal institutionelle Verwirrung und die Angst vor Zusammenstößen am Wahltag. Aus der Richtung der Armee sind schon einige Warnungen gekommen, man werde nicht dabei zusehen, wie Ägypten im Chaos versinkt. Ein Angebot der Militärs, einen nationalen Dialog zu organisieren, wurde allerdings zurückgenommen: Obwohl betont wurde, dass das ein "gesellschaftlicher" Austausch sein sollte, wurde Kritik laut, dass sich die Armee schon wieder eine politische Rolle anmaßen will.

Auch die Nationale Rettungsfront, die sich rund um Mohamed ElBaradei gruppiert - wobei der Nasserist Hamdin Sabbahi der stärkste Mann der Gruppe sein dürfte, zu der auch Amr Moussa gehört -, trägt zur Verwirrung bei. Rief sie zuerst zum Boykott des Referendums auf, schien sie am Mittwoch auf eine Teilnahme - mit Neinstimme, versteht sich - einzuschwenken. Gleichzeitig stellte sie jedoch Bedingungen, die nicht erfüllt sind: Anstatt gesplittet an zwei Tagen sollte das Referendum an einem Tag stattfinden, und es muss flächendeckend richterlich überwacht werden. Gerade weil die Überwachung nicht gewährleistet war, entschied sich Präsident Mohammed Morsi aber für eine Aufteilung auf zwei Termine. Wer von der Richterschaft nun wirklich mittun wird und wer nicht, auch das war zwei Tage vor dem Termin nicht klar. Die Justiz ist ebenso geteilt wie die ganze ägyptische Gesellschaft.

Fälschungsvorwürfe

Morsi kann kein Interesse daran haben, dass die Abstimmung so chaotisch verläuft, dass nachher massive Fälschungsvorwürfe laut werden. Die wird es ohnehin geben: Es wird schwer genug werden, das jeweils andere Lager davon zu überzeugen, dass es wirklich verloren hat. Versöhnen wird dieser Urnengang die Ägypter mit Gewissheit nicht.

In ägyptischen Botschaften auf der ganzen Welt hat die Abstimmung bereits am Mittwoch begonnen - obwohl sich auch viele Diplomaten der Protestfront gegen Morsis Vorgehen und gegen den Verfassungstext angeschlossen haben. Laut dem "Egypt Independent", der sich auf einen Außenministeriumssprecher bezog, hatten am ersten Tag etwa 20.000 Auslandsägypter ihre Stimme abgegeben - prozentuell am fleißigsten waren bisher jene in arabischen Golfstaaten. Dass sie eher keine Probleme mit dem vorliegenden Verfassungstext haben, ist angesichts ihrer undemokratischen Gastländer anzunehmen. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 14.12.2012)