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Aber am Ende lehrt uns Darth Vader aus "Star Wars", wie man das Böse bekämpft: Es geht anscheinend nicht ohne Mithilfe eines Bösen, der sich in letzter Minute zum Guten bekehrt hat.

Foto: REUTERS/Fred Prouser

Ein Plädoyer für das sokratische Gespräch.

Geh nie zu nah heran an den Fernseher: Als ich klein war, verbot mir mein Großvater, an den Fernseher nah heranzugehen, weil ich sonst erblinden würde. "Und klüger wirst du davon auch nicht", fügte meine Großmutter hinzu. Dann hob mein Großvater die Couch und zog daraus ein Buch hervor. Es war aus Papier. Ich wette die halbe Welt, hätte er ein E-Book herausgezogen, wäre ich wohl nie zum Lesen gekommen. Genauso gut hätte ich mich gleich mit einem Toaster anfreunden können.

Immer wieder frage ich mich, warum ich das E-Book so nicht mag. Es liegt nicht nur daran, dass das Papierbuch das definitiv bessere Gerät ist. Es ist resistent gegen Temperaturunterschiede, es gibt keine Lichtreflexionen, besitzt eine in Jahrhunderte gehende Lebensdauer und braucht auch keinen Strom wie sein größter Feind, der Fernseher. Es liegt nicht einmal daran, dass es von diesen aknegesichtigen Elektronikgenies aus Silicon Valley erfunden wurde, die eines Tages eine Idee hatten, die sich so gar nicht modern anhörte: "Hey, lasst uns das Handy größer machen und eine weitere Milliarde verdienen."

Das Papier hat eine magische Eigenschaft, die noch der beste Bildschirm nicht haben kann. Es fördert die Konzentrationsfähigkeit, die uns ohnehin nicht in den Schoß gefallen ist. Es geht also nicht um E-Book oder Papierbuch, sondern darum, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Langsam und konzentriert, oder werden wir sogar schon googeln, wenn wir uns mit jemandem unterhalten. Meine Großeltern brachten es schon damals auf den Punkt.

Geh nie zu nah heran an den Fernseher, denn du wirst erblinden. Und klüger wirst du davon auch nicht.

Der Stress meines Friseurs: Heute zückte mein Friseur bei meinem Anblick nervös die Schere, als wäre ich um eine Stunde zu spät gekommen. Dabei war ich pünktlich. Vorhin sah mich bereits das Fräulein in der Bank an, als bewegte ich mich in Zeitlupe. Ganz zu schweigen von den Semmeln morgens im Spar, die zwar heiß waren, aber halbroh. Jemand hatte sie zu schnell aus dem Ofen gezogen.

Statistisch gesehen besitzen wir so viel Freizeit wie noch nie. Verglichen mit einem Bauern aus dem Mittelalter haben wir praktisch die meiste Zeit Urlaub. Das Auto bringt uns in wenigen Minuten an einen Ort, für den man Stunden bräuchte. E-Mails ersetzen erfolgreich das Telegramm sowie das Handy den Gang zur Telefonzelle. Ganz zu schweigen vom Internet, welches in wenigen Sekunden Daten liefert, für die wir Tage oder Wochen bräuchten. Die Menschheit spart sich täglich Millionen von Stunden. Wäre Zeit eine Währung, wären wir alle Millionäre.

Dennoch klagt mein Friseur über chronischen Zeitmangel, während er meine Haare schneidet. Der Stress steht ihm ins Gesicht geschrieben. Wo sind die Stunden hin und die Tage, die er sich erspart hat, will er wissen. Es sieht so aus, als hätte er sie unbemerkt irgendwo verschleudert. Er kommt mit der Zeit vorn und hinten nicht aus und fragt sich, warum er früher viel mehr Zeit hatte. Er fuchtelt gestresst mit der Schere, und bald sieht meine Frisur dementsprechend aus. Als er fertig ist, blättert er schon im Notizblock.

Wo bleibt nur der nächste Kunde, fragt er sich und sieht sich im leeren Salon um. Er müsste schon längst da sein. Er greift nach seinem Handy, um dem säumigen Kunden Beine zu machen. Ich zahle und verlasse den Salon. Es ist mir peinlich, mit so einer Frisur unter die Leute zu kommen. Seltsam. Ich gehe jetzt auch viel schneller als zuvor.

Worüber reden wir, wenn wir reden: Ich sehe ein junges Paar in der Straßenbahn bei einem Gespräch. Sie redet und blickt dabei immer wieder diskret auf ihr Handy. Er hat in beiden Ohren Kopfhörer. Das Gespräch kommt verständlicherweise nicht in die Gänge. Es sieht so aus, als wollten die beiden einander gar nicht zuhören, als wäre das, was der andere sagt, ohnehin schon längst bekannt und folglich langweilig.

Während ich den beiden zusehe, stelle ich mir Sokrates vor, wie er vor über 2500 Jahren auf der Straße geht und wahllos Menschen einfach anspricht. Ganz harmlose Fragen sind es. Nach dem Wetter, nach dem Wohlbefinden, doch sie alle verwandeln sich im Laufe des Gesprächs in Dispute über Gott und die Welt. Es sind Fragen nach unserem Ursprung und unserer Zukunft. Fragen, die man heute praktisch nicht mehr hört. Das sokratische Gespräch ist ein Juwel unserer Philosophie und das Fundament unserer abendländischen Kultur. Nur im Gespräch lernt man das Gegenüber kennen und auch sich selbst. Je schmerzlicher die Themen sind, desto besser ist es. Fragen nach dem Wesentlichen, dem Essenziellen, entzweien nicht, im Gegenteil, sie schweißen uns zusammen. Das Gespräch ist ein Geschenk, welches nur dem Menschen in einem derartigen Ausmaß zuteilwurde. Freud baut darauf seine Psychoanalyse auf, und Voltaire erkannte, wie viel sich mit diesem Geschenk anstellen lässt. "Die Sprache wurde uns gegeben, um die Wahrheit zu verschleiern", erkennt der geistreiche Berater des französischen Königs.

Die beiden jungen Menschen versuchen auch, miteinander zu sprechen. Aber das Gespräch will nicht in Gang kommen. Es besteht aus zwei Monologen, die aneinander vorbeidriften. Die beiden suchen keinen gemeinsamen Nenner, sie geben Informationen weiter und bekommen im Gegenzug welche. Der junge Mann nennt seinen Lieblingsmusiker und gibt zu, dass er mal gerne nach Indien reisen würde. Die Frau erzählt im Gegenzug von ihrer Lieblingsserie und scherzt, dass sie nur aus 130 Folgen besteht. Sie lachen und verstummen dann, so als wüssten sie selber nicht, ob sie jetzt fertig sind oder nicht. In diesem Augenblick leuchtet das Handy der jungen Frau auf. Eine SMS. Während sie liest, schaut er erleichtert zur Seite. Was er denkt, ist unmöglich zu sagen.

Das Böse trägt nicht mehr Schwarz: In Star Wars tötet Luke Skywalker buchstäblich in letzter Minute den bösen Sith-Lord. Das Gute siegt über das Böse. Schon wieder, möchte man sagen. Das Böse ist leicht zu erkennen. Es trägt Schwarz und repräsentiert die niedrigen Charaktereigenschaften der menschlichen Natur. Gier, Empathielosigkeit und Machthunger. Die klassischen Eigenschaften von Diktatoren und Bösewichtern. Wo ist aber das Böse heute? Schwarz trägt heute jeder, und die Zahl der Diktatoren wurde beträchtlich dezimiert, in unserer westlichen Welt sogar vollkommen ausgelöscht. Skywalker weiß es jedoch besser. Die dunkle Seite der Macht stirbt nie. Sie verändert nur ihr Gesicht.

Heute sind die "bösen" Eigenschaften hinübergewandert in die Wall Street und die Wirtschaft. Sie haben sich in Bankern, Managern und Konzernbossen eingenistet und gedeihen dort prächtig. Das Böse hat es geschafft, Empathielosigkeit und Gier salonfähig, ja sogar sexy zu machen. Irgendwie haben es die heutigen Sith-Lords geschafft, ihre Interessen als unsere hinzustellen. Wir sind diejenigen, die nicht ohne einen neuen Plasmafernseher oder die nächste Handygeneration leben können. Sie liefern uns nur, was wir verlangen. Sie stellen uns sogar ihre Fabriken zur Verfügung, wo wir selbst die Produkte herstellen, die wir dann später käuflich im Geschäft erwerben.

Unsere kleinen Süchte, geschickt durch Werbung geschürt, treiben den in schlampige T-Shirts und Turnschuhe verkleideten Sith-Lords unser Geld in die Taschen. Und es ist nicht wenig. Fünf exquisite Prozent der Menschheit besitzen heute 95 Prozent des Gesamtweltvermögens.

Aber am Ende lehrt uns Star Wars, wie man das Böse bekämpft. Es geht anscheinend nicht ohne Mithilfe eines Bösen, der sich in letzter Minute zum Guten bekehrt hat. Skywalker bekommt Hilfe von Darth Vader, seinem leiblicher Vater, der im kritischen Moment sich für die Liebe zum Sohn entscheidet. Wir müssen also auf einen Mächtigen warten, der sich bekehrt und für uns Zuwendung verspürt. Doch bis dahin sind wir auf uns allein gestellt. Und dennoch sind wir gar nicht so machtlos. Es würde genügen, wenn wir einen Plasmafernseher weniger kaufen, zwei Tage das Auto stehenlassen und statt eines neuen Handys ein Buch kaufen mit dem Titel Mit tausend Euro einmal um die Welt. Ausgerechnet unser größter Nachteil, die naturgegebene Trägheit der Masse, könnte uns unschätzbare Dienste leisten. Heuer ein neues Modell weniger und ein kleineres TV-Gerät, und schon fahren die Bösen einen Milliardenverlust ein. Und wir bekommen sogar einen Zusatzbonus: Die Bösen werden böse auf uns. Und nicht umgekehrt. Und das ist auch viel besser so. (Radek Knapp, Album, DER STANDARD, 15./16.12.2012)