In China produzierte Spielzeuge genießen keine Bürgerrechte in Russland, dürfen also dort nicht demonstrieren! Künstlerin Anna Jermolaewa bietet den Plastik-Aktivisten Unterschlupf.

Foto: Ivan Krupchik, VBK, Wien, 2012

In einer Mid-Career-Retrospektive in der Kunsthalle Krems beweist sich ihr gutes Auge für Alltägliches.

Krems - "Das ist unser Land, und wir werden unsere Heimat nicht Gaunern, Diktatoren und Okkupanten überlassen", steht auf einem der Transparente, mit dem eine Gruppe von Demonstranten im Jänner 2012 in Barnaul, 180 _Kilometer von Nowosibirsk, ihr Missfallen mit der russischen Politik ausdrückte. Die Exekutive sah das nicht so. Denn bei den friedlich im Schnee Protestierenden handelte es sich unter anderem um 100 Legomännchen, ebenso viele Spielzeuge aus Überraschungseiern und ein gutes Dutzend Kuscheltiere. Die Veranstaltung sei insbesondere deswegen illegal, weil die Spielzeuge - überwiegend Importware - gar keine Bürger Russlands seien, hieß es doch tatsächlich in der Begründung der Polizei. 

Eine Farce im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahlen, die jedoch über Blogs und soziale Netzwerke ihre internationale öffentliche Wirkung nicht verfehlte. Die Spielzeug-Widerständler wurden sogar auf der Titelseite des Guardian gefeiert. Seither sind sie eines der besten Beispiele für gewaltlose Revolutionsstrategien der Kategorie "Hack the media". 

Einigen der illegalen Aktivisten verhalf die österreichische, 1970 in St. Petersburg geborene Künstlerin Anna Jermolaewa zur Ausreise. Nun sind die Plastikdemonstranten Teil ihrer zur Berlin Biennale begonnenen Installation Methods of social resistance on russian examples in der Kunsthalle Krems, Jermolaewas erster großer Retrospektive. Nur die Legostadt eines 13-Jährigen, Kulisse für das von seinem Vater geschriebene Märchen von den gerechten Wahlen, hat sie nachgebaut. 

Der Rest der Installation ist allerdings weniger niedlich. Ein dokumentarisches Video zeigt einige "Wahlhelfer", die sich für 1000 Rubel (etwa 25 Euro) an den Manipulationen der Wahlen beteiligten, Kundgebungen in Moskau und St. Petersburg und schließlich offizielle TV-Bilder von der Fahrt des Präsidenten zur Amtseinführung: Die Karosse Putins fährt durch eine von Menschen leergefegte Stadt. Gespenstisch.
Auch am Tag vor den Wahlen sei Moskaus Zentrum geräumt worden, um Proteste zu verhindern, erzählt Jermolaewa. Artikel 31 der Verfassung garantiere Versammlungsfreiheit, erklärt die 42-Jährige. „Bewegung 31" nennen sich daher jene Aktivisten, die an jedem 31. Tag eines Monats in verschiedenen russischen Städten zusammenkommen - nur mit der Verfassung in Händen.

Zum Systemfeind wurde man immer schon leicht, sagt Jermolaewa und lacht. Man musste nur einen Fisch in eine Zeitung einwickeln, wo ein Foto Stalins drauf war. Die Geschichte ist unaufgearbeitet. Genosse Stalin werde noch immer verehrt. 3 Doppelgänger gäbe es allein in Moskau. Deren Geschäfte gehen gut. Gorbotschaw-Doppelgänger gibt es hingegen nur einen einzigen.

Auch Jermealowa selbst wurde 1989 wegen antisowjetischer Propaganda angeklagt, war Teil der Dissidentenszene und Mitbegründerin der ersten oppositionellen Partei Demokratische Union. Eine Einladung nach Polen ermöglichte es ihr, das Land zu verlassen. Von dort floh sie - nach Österreich.

Geplatzte Utopien

Erinnerungen an die Ankunft und ihre ersten Tage am Westbahnhof verdichtet das Video Research for Sleeping Positions (2006). Auf einer Bank kauernd, versucht eine Frau Schlaf zu finden. Nicht zu wissen, wohin - dieser Zustand schreibt sich in den ruhelosen Körper ein. Es ist eine gestalterisch reduzierte Arbeit wie auch Jermolaewas vierteilige Videoinstallation Fünfjahresplan - geradezu eine Ikone geplatzter Utopien. Ein Jahr nach dem Zusammenbruch der UdSSR begann Jermolaewa, alle fünf Jahre die Rolltreppe einer St. Petersburger U-Bahn-Station zu filmen. Während oben auf der Straße der Turbokapitalismus Einzug gehalten hat - westliche Luxusmarken und Autos, mit denen die Reichen täglich stundenlang im Stau stehen -, sieht im Untergrund alles noch gleich aus. Es gäbe zwar akustische Reklame, erzählt Jermolaewa, aber die Leute können sich kaum ihre Lebensmittel leisten. 

Jermolaewa inszeniert nicht. Ihr Talent liegt darin, in den einfachen, alltäglichen Dingen Metaphern für (Sozial-)Politisches zu erkennen: Sie sieht sie in den Ratten, die sich eingesperrt in einem Terrarium an den Schwänzen anderer nach oben ziehen. In den nahezu kriegerischen Szenen, die sich nach Schließen des Flohmarkts am Naschmarkt abspielen. In den Schafen auf Sylt mit den blauen Nummern auf dem Fell. Oder auch nur in den Händen, die auf der Toilette am Flughafen getrocknet werden: Unter heißer Luft verformt sich der Körper, schießt es einem in den Sinn. 

Manchmal sind es auch Objekte wie eine Schublade, in der Schlüssel verräumt sind: "Tischlerei", "Badeanstalt", "Lager" und "Leichenhalle" sind die Haken beschriftet. Es sind die Schlüssel aus einem Gulag in Sibirien. "In der Lade findet sich komprimiert die Struktur des Zwangsarbeiterlagers wieder", sagt Jermolaewa, die sich vor wenigen Wochen auf eine Reise in die Vergangenheit begeben hat. 15 Mitglieder ihrer Familie väterlicherseits wurden enteignet und deportiert. Reichere Bauern, das waren bereits solche mit drei Kühen und einem Pferd, erklärt sie, glaubte man nicht in Kolchosen eingliedern zu können. 17 Jahre lang waren ihre Urgroßeltern eingesperrt. Für ihre jüngste Arbeit "Gulag" reiste Jermolaewa zu einem heruntergekommenen Lager mitten im Nirgendwo, zu dem sie erst aufbrechen konnte, als Frost und Schnee die morastig, sumpfigen Straßen passierbar machte. Mehrmals blieb sie auf der ewiglangen Fahrt durch dichten Schnee stecken, brauchten Stunden, um das Fahrzeug zu befreien und weiterfahren zu können.

"Die Schuld zu erkennen ist zu wenig", steht auf einem Schild, dass die Künstlerin dort ebenso fand wie einen Stundenplan. Täglich um 18:30 sah dieser "Erziehungsarbeit zur Besserung" vor. 

Auf ihrer Reise nach Sibirien erhielt sie einen Hinweis, dass auch Maria Aljochina, zu zwei Jahren Haft verurteiltes Mitglied der Punkband Pussy Riot, in einem Lager in der Gegen festgehalten wird. In Perm fragte sie im Lager nach. Man bestätigte. Besuchen durfte sie sie nicht. "Gulag ist ein zeitloser Begriff", sagt Jermolaewa, denn es gibt wieder politische Häftlinge in Russland. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, Langversion, 15./16.12.2012)