Sie hat uns wieder, die besinnliche Weihnachtszeit. Für manche Menschen allerdings, vor allem für jene, die sich dem Nachdenken zugewandt haben, ist diese in vielerlei Hinsicht eher bedenklich als besinnlich. Es wird Ruhe eingefordert und Lärm gemacht. Es wird Liebe verkündet und Neid geschürt. Es wird Erlösung versprochen und Abhängigkeit geschaffen. Es wird das Überweltliche angerufen, das Weltliche zelebriert.
Wenn wir von der Weihnachtszeit sprechen, sprechen wir von einer besonderen Zeit. In dieser letzten Kolumne wollen wir daher der Zeit philosophische Aufmerksamkeit widmen, denn kaum etwas anderes betrifft den Menschen so unmittelbar. Der Kirchenmann und Philosoph Augustinus hat sich die Frage gestellt, worum es sich tatsächlich handelt, wenn wir von der Zeit sagen, sie sei ein Kontinuum aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Er kam zu dem Ergebnis, dass die Gegenwart, die einzige Zeit ist, über die wir unmittelbar verfügen. Selbst Vergangenheit und Zukunft erschließen sich uns nur über die Gegenwart. Wir verfügen über die Gegenwart in Form unserer gegenwärtigen Wahrnehmungen und Erlebnisse, über die Vergangenheit in Form gegenwärtiger Erinnerungen und über die Zukunft als einen gegenwärtigen Blick auf unsere Erwartungen, mag er ängstlich oder auch hoffnungsfroh sein. Wir verfügen also über die Gegenwart des Gegenwärtigen, über die Gegenwart des Vergangenen und die Gegenwart des Zukünftigen, nicht aber über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als solches.
Immanuel Kant hat der Zeit den Charakter einer objektiv gegebenen Größe der Welt überhaupt abgesprochen. Er argumentiert für die Zeit als eine subjektiv-menschliche Bedingung der Erkenntnis. Zeit gibt es ihm zufolge nicht unabhängig von uns, sondern Zeit ist eine genuin menschliche Anschauungsform, die das Wahrgenommene in ein erlebtes Nacheinander bringt. Martin Heidegger misst dem Erleben von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besondere Seinszustände bei.
Er spricht von dem "Schon-gewesen-Sein", vom "Sein-Bei" und vom " Sich-vorweg-Sein". All diese Zustände drehen sich für ihn um die Grundstimmung des "Besorgt-Seins", welche der Ausrichtung des Lebens auf den Tod hin entspringt. Für Heidegger ist Zeitlichkeit schlechtweg der Sinn der Sorge. Wie auch immer wir die Zeit bestimmen wollen, Zeit betrifft uns unmittelbar. Sie macht uns gegenwärtig, was ist und was nicht ist. Sie lässt uns einander überhaupt erst begegnen, weil sie uns allen gleichermaßen als Ordnungsprinzip dient, und sie lässt uns für uns selbst und für andere Sorge tragen. Die Zeit ist so allgegenwärtig, dass wir ihren verbindenden Wert für das Miteinander der Menschen gerne übersehen. Wenn wir die Weihnachts-Zeit nach diesem Wert ausrichten, dann kann aus ihrer Bedenklichkeit vielleicht doch noch Besinnlichkeit werden. Wir wünschen Ihnen deshalb Zeit füreinander und schließen mit dem Gruß der Philosophen, wie ihn Ludwig Wittgenstein uns anempfohlen hat: "Lass Dir Zeit". (Heinz Palasser, Bernd Waß, DER STANDARD, 15./16.12.2012)