Fatos Lubonja vor dem einstigen Gefangenenlager Spac, wo er 17 Jahre als politischer Häftling verbrachte. In seinen Tagebüchern hatte er das Hoxha-Regime kritisiert und wurde verraten.

Foto: Standard/Barbara Haussmann

Bild nicht mehr verfügbar.

Mit einem Hungerstreik in Tirana forderten ehemalige politische Häftlinge die ihnen gesetzlich zustehende Entschädigung.

Foto: AP/Pustina

Das bedeutet nicht nur eine Demütigung für die einstigen Opfer des Regimes, sondern vergiftet auch das gesellschaftliche und politische Klima nachhaltig.

Fatos Lubonja war ein freier Mann. Nach 17 Jahren Gefangenenlager machte er sich auf die Suche nach seiner Vergangenheit. Er wollte herausfinden, wie er im Alter von 23 Jahren auf der langen Liste der während des Kommunismus inhaftierten Albaner gelandet war: als politischer Häftling, reduziert auf seinen Namen und eine Nummer. Seine Suche führte ihn von den Geheimpolizeiarchiven zum Telefonbuch, wo er einen Namen und eine Nummer fand, die eine Antwort zu versprechen schienen.

"Sie wissen, was ich suche", sagte Lubonja, nachdem er die Nummer gewählt hatte. "Ich möchte Sie treffen." Zunächst schien der Mann am anderen Ende der Leitung zu zögern. Es handelte sich um jenen ehemaligen Geheimpolizeibeamten, der die Akte bearbeitet hatte, die zur Verurteilung Lubonjas führte. Sein Name war Lambi Kote, und er kannte Lubonja besser als Lubonja ihn. Die zwei trafen sich schließlich 2010 in einem schummrigen Kellerlokal in Tirana - der ehemalige Gefangene war Anfang sechzig, und der Mann, der zu seiner Verhaftung beigetragen hatte, bereits in seinen Siebzigern.

Bizarrste Diktatur

Unter den kommunistischen Diktaturen Osteuropas war Albanien die ärmste und bizarrste. Der paranoide Parteiführer Enver Hoxha unterdrückte nicht nur jegliche Opposition, sondern untersagte auch fast jeden Kontakt mit anderen Ländern.

Innerhalb der größeren Haftanstalten seines Landes errichtete Hoxha mehrere kleinere. Vermeintliche Staatsfeinde wurden in Gefangenenlager gebracht, ganz nach dem Vorbild von Stalins Gulag. Die Insassen wurden gezwungen, in den Bergbau- und Infrastrukturprojekten der Regierung zu arbeiten. Viele starben infolge der entsetzlichen Bedingungen. Insgesamt durchliefen etwa 200.000 Menschen diese Lager. In einem Land mit drei Millionen Einwohnern hat fast jeder Fünfzehnte ein Familienmitglied, das von den Kommunisten inhaftiert oder verschleppt wurde.

Heute sind etwa 2700 ehemalige Häftlinge noch am Leben. Mittlerweile verbittert und verarmt, haben sie nur einen Bruchteil der Entschädigung erhalten, die ihnen von den postkommunistischen Regierungen versprochen worden war. Während eines Hungerstreiks in Tirana vergangenen Monat haben sich zwei ehemalige Häftlinge selbst angezündet. Einer der beiden ist mittlerweile seinen Verbrennungen erlegen.

Angesichts der Ungewissheit einer Wiedergutmachung begannen einige Überlebende, für die Veröffentlichung der schmutzigen Geheimnisse des Kommunistenstaates zu kämpfen, die in den riesigen Archiven der Geheimpolizei Sigurimi verborgen liegen. Doch der Staat hat der Forderung, die Archive für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nicht nachgegeben.

In Interviews mit dem Balkan Investigative Reporting Network (Birn) bestätigten mehrere Regierungsbeamte, dass ein Großteil der Archive zerstört worden war. Es sei unwahrscheinlich, dass die noch existierenden Akten jemals ans Tageslicht kämen, meinten sie, da sie als Karten in einem hochriskanten Spiel fungierten, das von den nunmehrigen Führungskräften des Landes gespielt werde.

Politische Erpressung

"Gerüchte über Exkollaborateure in der Politik gibt es seit vielen Jahren - aber bis jetzt hat die albanische Öffentlichkeit nur einige wenige Akten zu Gesicht bekommen", so Fatos Klosi, der in den späten 1990ern Chef des Geheimdienstes war. "Dieses Thema wurde immer für politische Erpressung genutzt, um jenen Angst zu machen, die mit guten Gründen Angst haben."

Zwei Parteien, die Demokraten und die Sozialisten, dominieren Albanien seit dem Fall des Kommunismus. Beide Parteien haben Lippenbekenntnisse zu den Forderungen der Opfer des Kommunismus abgelegt und sich gleichzeitig gegenseitig vorgeworfen, diese zu ignorieren. Anstatt zu einer Aussöhnung beizutragen, ist die schmerzliche Vergangenheit Albaniens zu einem politischen Machtinstrument geworden.

Lubonja stand am Beginn einer vielversprechenden akademischen Karriere, als man die geheimen Tagebücher fand, in denen er das Hoxha-Regime kritisierte. Man brachte ihn ins Gefangenenlager von Spac, wo er vier Monate in Einzelhaft verbrachte. Nach fünf Jahren wurde sein Strafmaß erhöht, da man ihn beschuldigte, innerhalb des Lagers einer regimekritischen Organisation beigetreten zu sein. Er wurde 1974 inhaftiert und 1991 nach dem Zusammenbruch des Kommunismus befreit.

Im neuen Albanien verdiente sich Lubonja seinen Lebensunterhalt als Autor, immer noch gequält von Fragen aus seiner Vergangenheit. Welcher seiner Freunde hatte ihn verraten? Und was war aus den von der Polizei konfiszierten Tagebüchern geworden?

Das Treffen mit dem ehemaligen Geheimpolizisten sollte Lubonja dabei helfen, mit der Sache abzuschließen. Doch es wurde nichts daraus. Kote wehrte seine Fragen mit eigenen Fragen ab. Lubonja war entsetzt, wie wenig sich geändert hatte. "Ich hatte Angst, dass er Macht über mich hatte und nicht umgekehrt", erzählt er. "Er wusste, was passiert war, ich nicht." Der ehemalige Geheimpolizist verriet, dass auch er zur Zwangsarbeit in einer Fabrik verpflichtet worden war, nachdem er bei den Kommunisten in Ungnade gefallen war. "Er versuchte mich davon zu überzeugen, dass wir gleich waren, beide Opfer unserer Zeit", sagt Lubonja.

Die Ansicht, dass alle Albaner gleichermaßen unter dem Kommunismus gelitten hätten, verstimmt jene, die mehr verloren haben als andere. Die Politik des Staates gegenüber seiner Vergangenheit scheint jedoch diese Meinung stillschweigend zu bestätigen, auch wenn sie dies nicht artikuliert. Ehemaligen politischen Häftlingen wurde Entschädigung versprochen. Doch in Wirklichkeit werden sie nicht viel anders behandelt als andere Bürger. Das Archiv der Geheimpolizei, das offenlegen würde, wer im Kommunismus wen ausspioniert hat, bleibt weiterhin verschlossen.

Anderswo sollen ähnliche Offenlegungen - etwa im Fall der ostdeutschen Stasi-Akten - traumatisierten Gesellschaften geholfen haben, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. In Albanien wird die Vergangenheit jedoch unter den Teppich gekehrt. "Ein beträchtlicher Teil der Akten wurde in den frühen 1990ern zerstört", so Kastriot Dervishi, seit 2005 Direktor des Archivs im Innenministerium.

Viele Albaner glauben, dass Spitzenleute beider Parteien etwas von den Archiven zu befürchten hätten - weil sie entweder Spione waren oder ausspioniert wurden. Das gezielte Durchsickernlassen von Informationen aus dem verschlossenen Archiv wurde bereits dazu verwendet, um prominente Personen anzugreifen oder zu erpressen.

Zudem argumentiert Exgeheimdienstchef Klosi, dass die Angst vor den unbekannten Akten für die Politiker bei weitem wertvoller sei als die darin enthaltenen Informationen. "Nichts wird passieren, wenn wir die Akten öffnen", meint er. "Aber niemand ist daran interessiert, dies zu tun, weil die Vergangenheit als politisches Werkzeug eingesetzt wird." (Aleksandra Bogdani aus Tirana /DER STANDARD, 18.12.2012)