Ein kleiner Reality-Check ist dringend nötig. Gegenwärtig liegt der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung der Syrien-Krise auf den endlosen (mitunter müßigen) Debatten, ob, und wann und wie der syrischen Opposition zu trauen sei und ob diese bewaffnet werden solle/dürfe/ müsse. Dabei muss ein anderes Problem wesentlich rascher gelöst werden: Die Lage der Zivilbevölkerung Syriens, vor allem aber in den Konfliktzonen, verschärft sich seit Anfang Dezember dramatisch. Informationen, die ich von befreundeten Journalisten erhalte, die derzeit aus den nördlichen Regionen Syriens berichten, legen übereinstimmend die Einschätzung nahe, dass Millionen Menschen am Rande ihrer Existenz stehen.

Der in Krisenreportagen routinierte Fotograf Paul Rigol etwa schickte mir vor zwei Tagen eine Nachricht, dass er "die Bilder nicht mehr aus den Kopf bekommen kann. - Es sind Bilder von verzweifelten Menschen, sie sehen aus wie Geister: Apathisch, bleich, gehen sie schweigend durch die Straßen." Andere waren zornig, brüllten ihn an: "Gebt uns Brot!" Darunter eine Mutter von fünf Kindern, die seit Tagen nichts mehr gegessen hatte.

Ab zwei, drei Uhr früh stehen die Menschen in der Millionenstadt Aleppo an, um Brot zu kaufen. Bis zu zwanzig Stunden dauert die Wartezeit. Eine britische Kollegin beobachtete einen alten Mann, der sich in seiner Verzweiflung ein Stück verschimmelte Flade in den Mund steckte. Sie sah Kinder, die bei offenen Feuerstellen kaputte Möbel verheizen. Szenen wie aus einer Stadt nach der Apokalypse. In der Nacht gibt es weder Licht noch Heizung noch die Möglichkeit zu kochen.

Mehrere Spitäler Aleppos kündigten soeben an, ihren Betrieb einstellen zu müssen, da die Stromversorgung kaum noch klappt. Es fehlt in Syriens Bürgerkriegsgebiet - und zunehmend auch in den Gebieten, die das Regime hält - an allem: Mehl, funktionstüchtige Bäckereien, Treibstoff und Wasser. Es ist ein teuflischer Kreislauf: Ohne Benzin kommt die Lieferung von Nahrungsmitteln genauso zum Stillstand wie die Wasserpumpen. Zudem reichen die vorhandenen Chemikalien nicht, um das bisschen Wasser, das noch fließt, zu desinfizieren.

Die Preise für Brot sind um das 200-Fache gestiegen; für Heizöl um das 1000-Fache. Infektionskrankheiten grassieren. Dabei hat der Winter erst begonnen. Leidtragende sind die 23 Millionen Syrer, gleich welcher Seite sie sich zurechnen; vor allem aber jene 1,5 Millionen, die innerhalb des Landes auf der Flucht sind. Viele von ihnen sind nicht bloß in Gefahr, zu frieren und zu hungern, sondern, um es in aller Klarheit zu sagen: zu erfrieren und zu verhungern.

Der Syrische Rote Halbmond kooperiert im Auftrag der syrischen Regierung mit dem UN-Welternährungsprogramm. Doch die UN-Sprecherin in Damaskus zitiert zahlreiche - unüberwindbare - Hürden, die einer gezielten Hilfe dies- und jenseits der Frontlinien im Wege stehen. 15.000 Tonnen Lebensmittel würden - mindestens - gebraucht, um den 1,5 Millionen von extremer Not Betroffenen zu helfen. Doch von den dazu nötigen 22 Millionen US-Dollar ist nur ein Bruchteil gesichert. Die Kalorienmenge pro Ration wurde bereits von 1300 Kalorien auf 1000 gekürzt. "Was wir haben, reicht so noch bis Jänner. Wie es aber ab Februar weitergehen wird, wissen wir nicht", sagte die stellvertretende Leiterin des UN-Programms in Damaskus, Kate Newton.

Das syrische Regime schiebt den schwarzen Peter dem "Westen" zu, dessen Sanktionen die Menschen so hart treffen würden. Die Opposition macht den gnadenlosen Kampf des Assad-Regimes gegen den Aufstand für die Katastrophe verantwortlich. Viele der Syrer, die ich in den Bürgerkriegsregionen traf, sympathisierten allerdings weder mit der einen noch mit der anderen Seite. "Wir wollten Würde, Freiheit und ein demokratisches System", immer wieder hörte ich diesen Satz und die daran geknüpfte Botschaft: "Doch was wir bekamen, ist ein Krieg, und der Westen hat uns in Stich gelassen." Und: "Die Einzigen, die uns helfen, sind die Islamisten und die Staaten, die sie sponsern: Katar, Saudi-Arabien. Wir haben keine andere Wahl, als uns auf ihre Seite zu schlagen."

Und dies gilt mittlerweile längst nicht nur beim Thema Waffen: Das Emirat Katar hat soeben acht Millionen US-Dollar an 14 interimistische lokale Administrationseinheiten ("Räte") in den von Rebellen gehaltenen Teilen Syriens überwiesen. Eine Million ging direkt an den Übergangsrat der Stadt Aleppo. Saudi-Arabien sagte 100 Millionen zu.

Und ausgerechnet Mitglieder der radikal islamistischen An-Nusrah-Front, eben von den USA als "Terrorgruppe" deklariert, lässt sich beim Brotbacken und beim Verteilen der lebensnotwendigen Hilfe filmen.

Nein, es gibt kein Patentrezept, wie der "Westen" in dieser Krise jenen helfen könnte, die derzeit am dringendsten überlebensnotwendige Unterstützung brauchen. Dies allerdings - so wie es derzeit geschieht - vor allem jenen Staaten und Organisationen zu überlassen, die eindeutig für radikalen Islamismus stehen, wird schlussendlich mehr Schaden anrichten, sprich: die Balance mehr zugunsten radikaler Gruppen verändern als die Waffen, die sie liefern.

Ob Muslimbruderschaft oder salafistische Fraktionen: Eine der Grundlagen ihres politischen Erfolgs war und ist ein sozialer - prestigeträchtige Hilfe für die Ärmsten. (Petra Ramsauer, DER STANDARD, 19.12.2012)