Demonstration in Tel Aviv vor der Uni während des Gaza-Krieges im November.

Foto: Hackl

Wir befinden uns mitten im jüngsten Gaza-Krieg. Am Abend davor sind Raketen nach Tel Aviv geflogen. Und dennoch waren für einige dutzend palästinensische Israelis, die an der Universität in Tel Aviv studieren, die israelischen Raketen über Gaza schlimmer, als jene, die sie selbst treffen könnten.

"Ich lebe in Israel. Aber mein Herz ist in Gaza", sagte eine Demonstrantin vor dem Uni-Campus, wo in einem Sitzstreik die Buchstaben "Free Gaza" geformt wurden. "Und was, wenn hier eine Rakete der Hamas landet?", rief ein jüdischer Israeli entrüstet. "Dann lauft ihr weg. Feiglinge!" Man solle ihnen die Staatsbürgerschaft wegnehmen, so der Vorschlag eines anderen Gegendemonstranten. "Entweder Israeli oder Palästinenser." Das ist nur eines von vielen Beispielen im Leben von palästinensischen Israelis, die im Herzen jüdischer Städte in Israel leben, ihr eigenes Herz aber oft in Palästina haben. 

Zugehörigkeit ist in Israel oft etwas Exklusives: nicht nur zwischen Israeli-Sein und Palästinenser-Sein. Auch ist man entweder Jude oder Araber, Palästinenser oder Israeli. So hat es ein ethnischer Nationalismus den Menschen über Jahrzehnte eingetrichtert. So konnte der "Feind" im eigenen Land zum Freund gemacht werden durch strategischen Essenzialismus, geschürt durch die traumatischen Folgen von Krieg und Konflikt.

Unter der ideologischen Käseglocke versteckt sich in jedem Nationalstaat mehr als zugegeben wird. So auch in Israel, einer der vielfältigsten Nationalstaaten der Welt, der sich selbst einen Teil der Vielfältigkeit verweigert. Denn es aber sowohl jüdische Araber, iranisch-jüdische Israelis, palästinensische Israelis, und viele andere Kombinationen von Selbstbezeichnungen israelischer Staatsbürger. Anstatt Integration muss jedoch oft genug entweder assimiliert, oder ausgegrenzt werden: Asylwerber werden zu "Infiltranten" gemacht, palästinensische Israelis zu israelischen Arabern, und arabische Juden müssen das Arabische auf die Esskultur und die arabischsprachigen TV-Kanäle beschränken. Den Kindern hat man die Arabische Sprache gar nicht mehr beigebracht. Warum auch, wenn es Hebräisch gibt? Die Frage wer man ist bleibt für viele Menschen in Israel, wie auch in vielen anderen Nationalstaaten, ein Dilemma. 

Sonderfall palästinensische Minderheit

Das besondere an Israel ist jedoch die Realität der palästinensischen Minderheit im Land, die nach der Gründung Israels 1948 in das neue Staatsgebiet absorbiert wurde. Einerseits leben sie außerhalb der Palästinensergebiete und sind sozusagen keine richtigen Palästinenser. Andererseits sehen sie viele als keine "richtigen" Israelis, weil sie keine Juden sind und sich politisch oft sehr Israel-kritisch äußern. Ein blutiger Krieg hat sie 1948 von einer indigenen Mehrheit zu einer fremden Minderheit werden lassen. In den Jahren nach dem Krieg folgte fast zwei Jahrzehnte lang ein Militärregime über der arabischen Bevölkerung, und später haben strategische Landenteignungen arabisch dominierte Viertel wieder jüdischer werden lassen wie in der nördlichen Region Galiläa. Im Gegensatz zu vielen Minderheiten in europäischen Nationalstaaten, die irgendwann in das neue Heimatland eingewandert sind, passierte es hier umgekehrt: Der Staat Israel ist zur Minderheit eingewandert.

Etwa 20 Prozent aller Israelis sind nicht-jüdische Araber. Die meisten davon sehen sich auch als Palästinenser. Der Identitätskonflikt ist für sie chronisch. Ob in gemischten jüdisch-arabischen Städten wie Haifa und Akko, oder in arabischen Städten wie Nazareth - die Frage wer man ist und zu wem man gehört ist ständig präsent. Manchen wird das zu viel. Sie haben keine Lust mehr auf Entweder-oder-Spiele, wollen dorthin, wo sie anstatt Palästina und Israel, Araber und Jude, einfach mal versuchen können, etwas ganz anderes zu sein: sie selbst. Und Anonym. Flucht vor Ideologie-Zwang und dem Druck der eigenen Gemeinschaft scheinen manche junge Palästinenser in Israel in die einzig wirklich kosmopolitische Stadt des Landes - nach Tel Aviv - zu bringen.

Die Stadt als Auffangbecken

"Wenn man ein Kind in Haifa vom arabischen in den jüdischen Stadtteil laufen lässt, gibt es schnell mal Probleme. In Tel Aviv ist alles lockerer", sagt Dania, eine junge palästinensische Israelin, die in Tel Aviv lebt und studiert. "Wie ich sind viele junge Menschen wegen der Karriere hier. In Tel Aviv verbindet uns mehr, als uns anderswo trennt." Die junge urbane Kultur in der Stadt sei für sie verbindender als anderswo die ethnischen und kulturellen Grenzen zwischen Gemeinschaften. "Die Start-up-Kultur, die sozialen Medien, der ganze Lebensstil hier", sagt sie. "Das macht vieles leichter. Diversität wird von vielen Firmen hier gefördert."

Auf den ersten Blick scheint es überraschend, dass palästinensische Israelis gerade in das Herz der "ersten hebräischen Stadt" wandern, wie Bürgermeister Ron Huldai Tel Aviv nennt. Denn im Süden von Tel Aviv liegt Jaffa, das vor Israels Staatsgründung das wirtschaftliche Zentrum Palästinas war und auch heute noch arabischen Charakter hat, wenn auch immer mehr wohlhabende Juden dort Besitz aufkaufen. So wäre Jaffa auf den ersten Blick das logischere Ziel für junge Araber aus anderen Teilen Israels. Oder die gemischt arabisch-jüdische Stadt Haifa. Doch Tel Aviv scheint für einige nicht nur zum Karrieremachen attraktiv zu sein, sondern auch, weil es angenehm weit weg vom Druck der eigenen Gemeinschaft und der ständigen Polarisierung von Unterschieden ist. Es ist ein kosmopolitischer Raum, in dem sich das Individuum und seine Interessen leichter vor Kulturzwänge und politischen Druck schieben lassen.

Nur wenige bleiben

Trotzdem könnten noch viele Palästinenser mehr nach Tel Aviv kommen, sagt Sami Abu Shahade, Abgeordneter im Stadtrat von Tel Aviv. "Wir haben hunderttausende junge Araber, die weniger als eine Autostunde entfernt von Tel Avi leben. Warum kommt niemand? Tel Aviv ist eine großartige Stadt für junge Menschen. Für alle jungen Menschen. Aber sie kommen nicht." Abu Shahade glaubt zu wissen, warum. Es fehle an arabischem Kulturangebot. Diese sei nur im arabischen Stadtteil Jaffa zu finden. Und es gäbe in Tel Aviv viel Alltagsrassismus gegenüber Palästinensern. Als Minderheit fühlen sich viele Araber im jüdischen Staat diskriminiert und können sich daher kaum vorstellen, in Tel Aviv glücklich zu werden, meint er.

Trotz dem Mangel an explizit arabischem Kulturangebot und anderen Problemen, entscheiden sich dennoch immer wieder junge Palästinenser für die Stadt Tel Aviv, die zu einem Auffangbecken für Ideologie-Flüchtlinge und Individualisten geworden ist. "Sie kommen, weil es in Israel keine Stadt für Araber gibt", meint Shahade. Denn selbst die arabische Stadt Nazareth gleiche eher einem Dorf. Doch kaum junge Frauen und Männer die in Tel Aviv arbeiten und studieren bleiben ein Leben lang hier. Tel Aviv für viele Palästinenser nur eine Arbeits- oder Studienstadt. Ob Ärzte oder Menschen, die in Dienstleistungen arbeiten: die meisten arabischen Israelis, die in Tel Aviv Karriere machen, leben anderswo. Die Stadt wird dabei zu einem Mittel, und nicht zur Heimat. 

Für palästinensische Frauen, die ihr Studium in Tel Aviv abschließen, komme die Rückkehr nach Hause oft einem Trauma gleich, meint Shahade. Denn der Druck zu Heiraten ist für sie nach dem Studium groß. Das Leben im Dorf nach der Stadt wird mitunter schwer erträglich. "Ich habe das oft miterlebt. Es ist ein Trauma. Die Frauen sind es gewohnt in der Nacht aufzustehen und im Pyjama Zigaretten zu holen. Tel Aviv bietet ihnen alles, vor allem viel Freiheit. Wenn sie wieder ins arabische Dorf müssen, ist es damit meist vorbei", meint Shahade. (Andreas Hackl, derStandard.at, 19.12.2012)