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Dramatis Personae (I): der kleine Nacktmull.

Foto: dpa/Matthias Hiekel

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Dramatis Personae (II): das Christkind.

Foto: Ariel Skelley/CORBIS

Es war Ende November. Der Schnee fiel auf die Tannen und Fichten, der Mond schien auf den beschneiten Wald, und alle Tiere freuten sich auf Weihnachten. Der Hase freute sich auf Weihnachten, der Fuchs freute sich auf Weihnachten, die Eule freute sich auf Weihnachten, ja selbst der immer so knurrige Wolf wirkte in diesen Tagen vergnügter und fröhlicher als sonst. Nur ein Tier freute sich nicht. Das war der Nacktmull.

Mit hängenden Schultern saß der Nacktmull vor seiner winzigen Höhle, schaute trübsinnig vor sich hin und seufzte und stöhnte. "Was ist denn los mit dir, kleiner Nacktmull? Warum bist du denn so traurig? Weißt du denn nicht, dass in einigen Wochen das Christkind zu uns kommen wird?", fragte die Eule den Nacktmull mitleidig.

"Gerade deshalb bin ich ja so traurig", seufzte der Nacktmull. "Ich bin solch ein hässliches Tier, dass das Christkind sich zu Tode erschrecken und sofort wegfliegen wird, wenn es mich erst einmal zu sehen kriegt. Und dann bekomme ich kein Buch als Geschenk zu Weihnachten." Der Nacktmull hatte sich nämlich ein Buch vom Christkind gewünscht und das auch in seinen Wunschbrief geschrieben, denn er war eine große Leseratte.

Der Nacktmull hatte Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche gelesen, Marcel Proust und Thomas Mann, James Joyce und Peter Handke, Thomas Pynchon und Elfriede Jelinek, Peter Rosegger und David Foster Thomas. Er war ein sehr belesener kleiner Nacktmull, doch seiner Selbstachtung hatte die Lektüre nicht genutzt. "Ich komme mir so nackt und so hässlich vor", schluchzte der Nacktmull.

"Aber wo, du bist doch nicht hässlich", sagte die Eule zu dem kleinen Nacktmull. "Wie kommst du denn auf diese Idee?"

"Das ist lieb, dass du mich trösten willst, Eule, aber es ist einfach nicht wahr, dass ich nicht hässlich bin. Ich habe zum Beispiel nicht so ein wunderbar kuscheliges Fell wie der Hase."

Die Eule sagte nichts.

"Und ich habe auch nicht einen wunderbaren buschigen Schwanz wie der Fuchs."

Die Eule, klug wie sie war, schwieg noch immer.

"Ich habe nicht so scharfe Zähne wie der Wolf."

Wieder schwieg die Eule.

"Und so schöne große Augen wie du habe ich auch nicht."

Die Eule bemühte sich, nicht allzu geschmeichelt auszusehen. Sie räusperte sich und versuchte noch einmal, den kleinen Nacktmull zu trösten. "Du wirst sehen, das Christkind wird auch zu dir kommen und dir ein prächtiges Buch als Geschenk bringen." Dann machte sie zweimal "Schuschu", hob die Schwingen und flog nach Hause in die große Tanne, in deren Stamm sie wohnte.

Die Eule hatte ihr Bestes getan, um den Nacktmull aufzumuntern, doch es war vergebene Liebesmüh. Der Nacktmull wurde immer trauriger und trübsinniger, je mehr Weihnachten sich näherte. Die anderen Tiere begannen, sich ernsthafte Sorgen um ihn zu machen.

Am ersten Adventsonntag ging der Hase zur Höhle des Nacktmulls, um ihn zu trösten. Er redete ihm gut zu, doch der Nacktmull blieb traurig wie zuvor, und der Hase musste unverrichteter Dinge von dannen ziehen.

Am zweiten Adventsonntag versuchte der Fuchs, den Nacktmull aufzumuntern, doch auch er hatte kein Glück. Der Nacktmull blieb so traurig wie zuvor, und auch der Fuchs zog unverrichteter Dinge von dannen.

Am dritten Adventsonntag war die Reihe am Wolf. Schon am frühen Morgen trottete er durch den schneeweißen Wald zur winzigen Höhle des Nacktmulls und traf diesen mit hängendem Kopf und verweinten Augen an. Fast eine ganze Stunde lang redete der Wolf auf ihn ein und erzählte ihm lustige Geschichten, um ihn aufzuheitern, doch der Nacktmull wollte und wollte sich nicht trösten lassen. Schließlich schwieg auch der Wolf und schnürte ratlos in den tiefen Wald zurück.

Ein paar weitere verschneite Tage gingen ins Land, und auf einmal war es so weit: Der Weihnachtstag war gekommen. Alle Tiere hatten vom Christkind wunderbare Geschenke bekommen.

Auf dem Gabentisch des Hasen lag ein riesiger Sack Karotten, auf dem des Fuchses ein fetter Gänsebraten. Die Eule bekam die neue Brille, die sie sich schon so lange gewünscht hatte, und der Wolf ein Ersatzgebiss, denn er war alt und seine Zähne waren ihm schon ausgefallen. Nur auf den Nacktmull hatte das Christkind offenbar vergessen. Sein Gabentisch blieb öde und leer.

Nun lag der kleine Nacktmull mutterseelenallein vor seiner winzigen Höhle auf den Rücken und starrte in den dunkelgrauen Himmel, aus dem dicke Schneeflocken auf die Tannen fielen. "Das Christkind ist sicher zu Tode erschrocken, als es ein so hässliches Tier wie mich gesehen hat", sagte der kleine Nacktmull, "es ist auf der Stelle weggeflogen und wird mir kein Buch schenken." Dicke Tränen rannen aus seinen kleinen Nacktmullaugen. Er war so unglücklich, dass er am liebsten gestorben wäre.

Und als er da so lag, sah er plötzlich im Gipfel einer Tanne ein kleines Lichtlein blitzen. Der Nacktmull rieb sich seine verweinten Augen und sah nach oben. Was, um Himmels willen, mochte das denn sein? Doch nicht etwa das ...

Das Lichtlein kam näher, und plötzlich schälte sich, deutlich erkennbar, eine kleine Figur aus dem Baumdunkel. Es war eine wunderschöne kleine Figur, mit langen gelockten blonden Haaren und einem wallenden Gewand aus Gold und Silber. Der Nacktmull traute seinen Augen kaum.

"Bist du etwa das Christkind?", rief er nach oben.

"Selbstverständlich bin ich das Christkind, Mann", rief die kleine Figur zurück und warf die gelockten Haare in den Nacken, "was glaubt du denn, wer sonst am 24. Dezember durch die Baumspitzen fliegt?"

Der Nacktmull war verblüfft. Er hatte sich das Christkind etwas anders vorgestellt, nicht wie diese kleine Figur da oben, die eigentlich weniger wie ein Kind aussah, sondern wie ein sehr selbstbewusster junger Mann. "Dieses Christkind", dachte sich der Nacktmull, "sieht richtig cool aus." Ein passenderes Wort als cool fiel dem Nacktmull nicht ein.

"Ich wollte dir dein Buch persönlich vorbeibringen, Nacktmull", rief das Christkind, "und ich schwöre dir, es ist ein echt superes Buch. Du solltest es unbedingt lesen und dir ein paar Sätze hinter die Ohren schreiben."

"Wie heißt es denn?", rief der Nacktmull aufgeregt.

"Es ist von Saint-Exupéry und heißt Der kleine Prinz. Die Sätze, die mir am besten gefallen haben, sind die: ,Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.‘"

Der Nacktmull dachte einen Moment nach und fragte dann: "Gilt das auch für hässliche kleine Nacktmulle?"

"Das gilt ganz besonders für hässliche kleine Nacktmulle", rief das Christkind und schüttelte seine lange blonde Mähne. "Jetzt muss ich aber weiterfliegen, Nacktmull, ich habe heute noch jede Menge Arbeit vor mir."

Dann flog das Christkind über die Baumspitzen hinweg an den Horizont und ließ den glücklichsten kleinen Nacktmull der Welt im verschneiten Wald zurück. "Ich mag ja äußerlich hässlich sein", rief er außer sich vor Freude, "aber das ist gleichgültig. Denn das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar!"

Er war so glücklich, dass er sofort ein riesiges Fest für den Hasen, den Fuchs, die Eule und den Wolf ausrichtete, und gemeinsam schmausten, tranken und lachten die Tiere bis in die frühen Morgenstunden hinein. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schmausen, trinken und lachen sie noch heute. (Christoph Winder, Album, DER STANDARD, 22./23.12.2012)