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Kanzler Werner Faymann (re.) und Vizekanzler Michael Spindelegger nach einer Sitzung des Ministerrats.

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Michael Kerbler: Auch in Ländern, die ökonomisch relativ gut dastehen, hält sich die Vitalität des demokratischen Systems in Grenzen.

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Die Demokratie als Staatsform, deren Recht vom Volk ausgeht, hat nach dem Empfinden einer wachsenden Zahl von Europäern aufgehört zu existieren. Das Recht geht nicht mehr vom Volk aus. Es ist bloß noch aufgefordert, an Wahlen teilzunehmen. Unabhängig davon, ob dies bedeutet, tatsächlich eine Wahl zu haben.

Denn ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Fremdbestimmtheit. Die europäischen Bürger, allen voran Griechen, Irländer und Portugiesen, nehmen ihre Regierungen nicht mehr als ihre Regierung wahr, sondern als Interessenvertreter oder gar Sachwalter von internationalen Organisationen, wie etwa dem IWF, dessen Existenz nicht demokratisch legitimiert ist. Die Politik, auch in jenen europäischen Ländern, die ökonomisch durchaus passabel dastehen, verhält sich folgsam nach den Zurufen der "Finanzmärkte" aus Angst, internationale Ratingagenturen könnten die Bonitätsbewertung ihres Landes herabstufen oder gar empfehlen, den Zinssatz für die Staatsanleihen hinaufzusetzen.

Demokratie ist in den Augen vieler Europäer, nicht nur in Griechenland, Irland oder Portugal, ungerecht geworden. Fügsamkeit ist angesagt, denn sonst steigt der Schuldendienst.

Ein politisches Statement so wie jenes legendäre Postulat des sozialistischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky "Mir sind ein paar Milliarden Schilling Schulden lieber als ein paar hunderttausend Arbeitslose" ist heute nicht mehr vorstellbar. "Deficit-Spending", um den Sozialstaat zu stützen, um einen "New Deal" zu finanzieren, würde postwendend von den "Märkten" abgestraft. Denn die fühlen sich der Gesellschaft nicht verpflichtet. Und auch nicht der Ideenwelt des Aufklärers und Begründers der Nationalökonomie Adam Smith: "Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil ihrer Mitglieder arm und elend ist."

Fremdbestimmtheit aber heißt Freiheitsverlust. Und damit steht die zentrale Errungenschaft liberaler Gesellschaften zur Disposition: die Freiheit. Die Freiheit, über die eigene Zukunft und die Zukunft künftiger Generationen mitbestimmen zu können: Wollen wir den sozialen Nationalstaat bewahren oder uns dem System des wirtschaftsliberalen Welthandels unterordnen? Oder gibt es einen dritten Weg? Aber diese Diskussion wird nicht geführt.

Denn die erschöpfte Demokratie wird von einer wachsenden Zahl von Politikern repräsentiert, die selbst am Rand der Erschöpfung angelangt sind. "Eigentlich bräuchte die Politik mehr Momente der Entschleunigung, Reflexionsschleifen, um über grundlegende Entscheidungen nachzudenken", meint der Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Und er hat Recht. Demokratie braucht Zeit, braucht - wie dies der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering einmal formulierte - eine " menschenmögliche" Geschwindigkeit. "Demokratie wird nur bestehen können, wenn wir nicht durch die Geschwindigkeit der Ereignisse ihre Handlungsmuster völlig zerstören."

Faktum ist, dass die Demokratie, die in der frühen Phase der Moderne durch Wahlprozedere und dynamisierte Gesetzgebung den Ruf hatte, rasch auf gesellschaftliche Erfordernisse reagieren zu können, ernsthafte Konkurrenz durch autokratische Systeme erhalten hat. Die Hauptvorwürfe an die Adresse des demokratischen Systems: Demokratie sei zu langsam, produziere zu viele Schwankungen - etwa in ökonomischen Entscheidungsprozessen - und sei damit schon auf mittlere Sicht politisch schwer kalkulierbar. Womit sich zum Teil die Attraktivität Russlands und Chinas für die Finanzmärkte erklären lässt - die Kalkulierbarkeit dieser politischen Systeme verspricht sichere Renditen.

Demokratie ist längst zu einem "24/7"-Spektakel geworden. Politiker sind sieben Tage die Woche 24 Stunden im Einsatz. Und stehen in der Mediendemokratie permanent auf dem Prüfstand. Für Reflexion zwischen Reiz und Reaktion bleibt da wenig bis gar keine Zeit. Auf den Zeit- und Verantwortungsdruck, das Arbeitspensum und die vergleichsweise unterdurchschnittliche Bezahlung haben nur wenige der politisch Aktiven hingewiesen. Darin mag auch der Grund dafür liegen, dass es - analysiert man auf Bundes- wie auf Länderebene das Nachfolgerpotenzial der Parteien - um den Nachwuchs, der für Führungsfunktionen geeignet ist, allein zahlenmäßig schlecht bestellt ist.

Mit Erfolg behaupten wird sich das demokratische System westeuropäischen Zuschnitts nur dann, wenn es sich seiner Stärke und seiner Wurzeln besinnt: der gleichberechtigten Debatte und Teilnahme aller Demokraten an der Gestaltung der "res publica", unserer öffentlichen Angelegenheiten. Und das benötigt Zeit, nicht Zeiteffizienz. Das setzt den Dialog voraus, der nicht zwischen Power-Nap, Speed-Dating und Multitasking eingeklemmt werden kann. Der Abschied von "Hurry Sickness" zwingt allerdings auch dazu, Politikern zuzugestehen, zweit-, dritt- und viertwichtige Termine abzusagen. Um sich auf Menschen und Inhalte zu konzentrieren. Und weniger auf Lobbyisten.

Sehr wahrscheinlich eröffnen sich auf diese Weise neue Strategien, wie der Bedrohung der Freiheit durch Fremdbestimmtheit begegnet werden kann. Und Souveränität und damit Demokratie wiederzuerlangen ist. (Michael Kerbler, DER STANDARD, 22.12.2012)