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Zusammenstöße trotz eines Demonstrationsverbots in Neu Delhi.

Foto: AP/Frayer

Sie trotzen dem Tränengas. Sie trotzen den Wasserwerfern. Und sie trotzen den Schlagstöcken der Polizei. "Wir wollen Gerechtigkeit", " Hängt die Vergewaltiger" und "Genug ist genug", schreien sie, bis sie heiser sind.

Eine Woche nach der bestialischen Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Frau haben tausende Menschen am Wochenende in Indien ihrer Wut über die wachsende Gewalt gegen Frauen Luft gemacht - und das direkt vor der Haustür der Mächtigen, Delhis Regierungsviertel Raisina Hill.

TV-Journalist erschossen

Die Stimmung, die am Samstag noch weitgehend friedlich war, wurde am Sonntag aufgeheizter: Rowdys zündeten Barrikaden und Autos an und versuchten, die Absperrungen vor dem Präsidentenpalast zu stürmen. Es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die meisten Demonstranten blieben jedoch friedlich. Die Polizei setzte Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer ein, es gab zahlreiche Verletzte. Im Nordosten Indiens wurde am Sonntag ein TV-Journalist erschossen, als die Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnete.

Auch in Mumbai, Kalkutta, Chennai und anderen Städten zogen Menschen auf die Straße. Sie fordern mehr Schutz für Frauen, schnellere Verfahren und härtere Strafen bis zum Tod für Vergewaltiger - so gehen bisher drei von vier Tätern straffrei aus.

Die unfassbare Gewalttat ist nur die Spitze des Eisbergs: Laut offiziellen Statistiken wird in Indien alle 20 Minuten eine Frau vergewaltigt. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen, weil sich viele Opfer aus Angst, geächtet zu werden, nicht zur Polizei trauen. Die Gewalt gegen Frauen in Indien hat ein solches Ausmaß, dass die prominente Autorin Shobhaa De von einem "nationalen Notstand" spricht. Eine Demonstrantin sagte: "Der Fall in Delhi ist ein Symbol für das, was Frauen jeden Tag in diesem Land erleiden."

Aus Angst, dass die Proteste außer Kontrolle geraten, hatte Del-hi am Sonntag ein Demonstrationsverbot für das Regierungsviertel verhängt und alle Metrostationen in der Nähe geschlossen. Dennoch versammelten sich Tausende am India Gate und am Jantar Mantar im Zentrum Delhis.

Um die Menge zu besänftigen, deutete Innenminister Sushil Kumar Shinde an, dass die sechs Täter gehängt werden. Die Regierung erwäge die Todesstrafe für solche "raren" Fälle. Die Chefin der regierenden Kongresspartei, Sonia Gandhi, versprach den Demons-tranten: "Wir werden etwas tun." Doch viele Menschen sahen dies als bloße Lippenbekenntnisse.

Ausgelöst wurde die Welle der Wut durch die Gewalttat an einer 23-jährigen Medizinstudentin, die derart bestialisch war, dass sie selbst das Gewalt gewohnte Indien bis ins Mark erschütterte. Die junge Frau war Sonntag vor einer Woche in einem fahrenden Bus in Delhi zunächst von sechs Männern vergewaltigt und dann brutal mit Eisenstangen gefoltert worden, bis ihr Darm zerfetzt war. Ärzte haben sie inzwischen fünfmal notoperiert, ihr gesamter Darm musste entfernt werden.

Die behandelnden Ärzte sagen, sie hätten noch nie einen so grauenhaften Fall gesehen. Das Mädchen kämpft weiter um sein Leben. Selbst wenn sie überlebt, wird sie für immer medizinische Betreuung brauchen. Ihre Eltern, arme Leute, hatten ihren einzigen Besitz, ein Stück Land, verkauft, damit sie studieren kann.

Gewalt als Kavaliersdelikt

Wie sehr die Politik Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt sieht, zeigt sich daran, dass fast alle Parteien Politiker in ihren Reihen haben, gegen die wegen sexueller Delikte ermittelt wird. Doch das Gewaltproblem lässt sich nicht allein mit härteren Strafen, mehr Polizei und schnelleren Verfahren lösen. In weiten Schichten der Gesellschaft ist der Mann alles und die Frau nichts. Jedes Jahr werden hunderttausende weibliche Föten abgetrieben, bei Heiraten müssen die Eltern der Braut Mitgift an den Bräutigam zahlen, um die "Wertlosigkeit" des Mädchens aufzuwiegen.

Wenn Frauen auf offener Straße begrapscht und angepöbelt werden, wird dies als Eve-Teasing, als "Eva ärgern", verharmlost. In alten Bollywood-Filmen sind Vergewaltigungen oft Teil der Handlung, aber ein Kuss, also eine zärtliche Geste, gilt bis heute als Skandal. (Christine Möllhoff, DER STANDARD, 24./25./26.12.2012)