Der angekündigte Weltuntergang ist ausgeblieben, der vorweihnachtliche Stress nicht. Alle Jahre wieder der gleiche Einkaufstrubel, die gleichen Punschstandeln, Weihnachtslieder und Familienmitglieder, denen man nicht entkommen kann. Keine andere Zeit im Jahr ist von einer so komplexen kulturellen Verwandlung erfasst. Diese Veränderungen sind auf Plätzen öffentlich sichtbar. Selbst in glaubensferne Wohnungen dringt die christliche Bilderwelt mit Macht. Kaum eine Karte ohne weihnachtliches Motiv, kaum ein Fernsehprogramm ohne irgendeinen Bezug zu diesem Ereignis.

In diesen Tagen werden bei vielen die Fragen nach Sinn, Orientierung, dem Warum drängender. Das betrifft gerade in Umbruchzeiten wie diesen den persönlichen Bereich wie den gesellschaftlichen und politischen.

Glaubensgemeinschaften sind, wie viele andere Institutionen auch, in einer Krise - aufgerieben zwischen Zwist und Zweifel. Die Kirchen verlieren Mitglieder und Finanzmittel. Das jahrzehntelange Vertuschen der Missbrauchsskandale hat dazu beigetragen, dass die Glaubensgemeinschaften Glaubwürdigkeit eingebüßt haben. Religion verliert für die Menschen an Bedeutung, wie die alljährlich durchgeführte Market-Umfrage im Auftrag des Standard zeigt. Ins öffentliche Bewusstein ragt Religion vor allem dann, wenn es " Aufregerthemen" gibt: Vorhaut, Kopftuch und Kruzifix - um nur einige zu nennen.

Dabei werden ethische Fragen immer wichtiger, wie auch die zunehmende Zahl an Verhaltensregeln in Unternehmen zeigt. Die Stimme der Kirche als Hüterin von Werten wird gehört. Und sie könnte viel lauter und wirkmächtiger sein, wenn ihre Spitzenvertreter - gerade jene der katholischen Kirche in Österreich - diese Chance besser nützen würden.

In diese Lücke stoßen selbsternannte oder dazu stilisierte Heilsbringer, auch im politischen Bereich. Es ist erstaunlich, mit welcher Verzückung die meisten Zuhörer - darunter überraschend viele Geistliche - Frank Stronach lauschen, wenn er seine nicht näher definierten Werte predigt. Auch die Begeisterung über die Wahl des Pfarrers Joachim Gauck zum deutschen Bundespräsidenten ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Charisma in der politischen Klasse nicht besonders häufig anzutreffen ist; ein Blick auf die derzeitige österreichische Bundesregierung genügt.

Schriftsteller und Philosophen bringen sich wieder stärker in den öffentlichen Diskurs über Glaubensfragen ein. Vor kurzem hat Jürgen Habermas bei einem Vortrag in München die Frage gestellt: Wie viel Religion verträgt der liberale Staat? Habermas, der vor einigen Jahren noch "Religion ist Privatsache" postulierte, forderte: Religiöse Beiträge zu moralisch komplexen Fragen wie Abtreibung, Sterbehilfe oder vorgeburtliche Eingriffe in das Erbgut müssten gehört werden.

Autor Peter Handke gibt in der Zeit das Gefühl vieler Christmetten-Besucher wieder: "Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube, aber an den Gottesdienst glaube ich." Martin Walser beschrieb jüngst in einem Standard-Interview den Unterschied zwischen einem Atheisten und sich selbst: "Mir fehlt Gott."

Vielleicht reicht das schon als Botschaft: Weihnachten würde fehlen, auch der Rummel, die Punschstandln, die Lieder und die Familie. Und das Infragestellen von vielem, was im Alltag so nicht an die Oberfläche kommt - aus welchen Gründen immer. Was fehlt, hat einen Sinn. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 24.12.2012)