Besonders gefährdet, was Depressionen betrifft, seien alleinstehende Männer über 80 Jahre, sagt Georg Psota.

Foto: Christian Fischer

Standard: Warum treffen wir uns in Zobas Eck? Ist das besonders wienerisch für Sie? Warum?

Psota: Das ist ein sozioökonomisches Projekt in einem ehemaligen Haubenlokal. Hier war ja viele Jahre das "Steirereck". Man hat das Ambiente so belassen und heute lernen hier Jugendliche, die Probleme hatten, den Einstieg ins Arbeitsleben mit einer Koch-, und Kellnerlehre. Wo früher die Reitbauers haubenküche produziert haben, backen jetzt förderungswürdige Jugendliche Weihnachtskekse. Ich glaube, etwas Derartiges gibt es nur in Wien.

Standard: Haben Sie zu Weihnachten am meisten zu tun?

Psota: Entgegen der allgemeinen Erwartung ist es nicht so. Weihnachten ist keine Krankheit.

Standard: Warum nicht? Immer wieder ist zu hören, Weihnachten sei für viele Menschen eine psychische Ausnahmesituation.

Psota: Aber nicht unbedingt für unser Klientel. Wir haben pro Jahr rund 20.000 Anrufe bei der psychosozialen Informationsstelle, und wir behandeln zumeist psychisch schwer kranke Menschen, und schwer krank ist man nicht speziell zu Weihnachten. Die Krankheitsverläufe über das Jahr verteilt sind andere. Weihnachten ist die Zeit, wo viele normal neurotische Familien ziemlich angespannt sind, wo es einen enormen Erwartungsdruck gibt.

Standard: Was macht den normal neurotischen Familien zu Weihnachten zu schaffen?

Psota: Das war jetzt vielleicht ein bißchen zugespitzt. Zu schaffen macht, unabhängig von Neurosen, das Ende des Jahres. Wenn eine Periode endet, zum Beispiel ein Kalenderjahr, pflegen wir alle ein Stück der Rückschau. Es wird kollektiv bilanziert. Überall gibt es "best of, worst of". Dann gibt es diese ungeheure Erwartung, dass am 24.12. alles perfekt sein muss, mindestens ein Weihnachtswunder passieren soll. Daher sind oft die Tage nach Weihnachten für viele Menschen schwierig - weil es entgegen ihrer Erwartungshaltung dann doch wieder anders war. Dann finden Urlaube statt, die vielleicht auch scheitern. Und das nach einer Zeit, in der man versuchte, alles perfekt unter Dach und Fach zu bringen..

Standard: Hat sich Weihnachtsstress mit der Zeit verändert?

Psota: Ich sehe keinen großen Unterschied. Vielleicht ist durch moderne Kommunikationsmittel alles noch mehr beschleunigt worden. Aber Weihnachten ist auch eine Zeit der Gegenstrategien.

Standard: Nämlich?

Psota: Es gibt ja auch Besinnliches. Mehr Menschen gehen in die Kirche oder auf Adventfeiern. Und die Jahreszeit bremst uns in unseren Aktivitätsdynamiken. Wenige Menschen sind im Winter aktiver als im Sommer. Es gibt also biologische, psychische und soziale Gegenstrategien, um uns in Zeiten großen Drucks gesund zu halten. Allerdings habe ich mitunter den Eindruck, dass der Alkoholisierungsgrad der scheinbar normalen, gesunden Bevölkerung größer ist als ratsam. Das entschärft Konfliktsituationen nicht unbedingt und ist jedenfalls ungünstig, wenngleich es nicht zwangsläufig in eine psychiatrische Krise münden muss.

Standard: Wie geht es den Kindern psychisch Kranker zu Weihnachten? Kümmert sich jemand um sie?

Psota: Es kommt immer darauf an, an welcher psychischen Erkrankung die Eltern leiden, wie sehr sie krank sind und wie ihre unmittelbare Verfassung ist. Deutsche Daten zeigen, dass über den Jahresverlauf rund ein Drittel der Bevölkerung eine psychiatrische Diagnose hat - zumindest über kurze Zeit. Darunter sind Menschen mit Angststörungen, depressiven Verstimmungen, kurzfristigen Belastungsreaktionen.

Psychisch krank ist so eine Sache. Bei körperlichen Erkrankungen wird immer genau unterschieden. Bei psychischen Erkrankungen wird oft alles in einen amorphen Topf geworfen. Was die Kinder betrifft: Die sind immer besonders belastet, bei allen Problemlagen des familiären Systems. Aber ich könnte nicht estimieren, dass es einem Kind mit einer depressiven Mutter, die in Behandlung ist und in einem einigermaßen sicheren sozialen Gefüge lebt, schlechter geht als einem Kind, dessen Eltern in Trennung leben. Rosenkriege sind für Kinder hochgradig traumatisch.

Standard: Der Mangel an Kinder- und Jugendpsychiatrie in Wien wird von Experten stark kritisiert.

Psota: Dem schließe ich mich an. Aber nicht nur auf Wien bezogen, das ist ein österreichweiter Mangel. In Wien haben wir wenigstens eine Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im AKH und eine im Krankenhaus am Rosenhügel, sowie drei Ambulatorien mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Aber dennoch: Dieser Mangel existiert, und es wird nicht besser dadurch, dass immer weniger Menschen Psychiater werden wollen. Mich beschäftigen diese Nachwuchssorgen sehr.

Standard: Sind Menschen in Wien depressiver als anderswo?

Psota: In Wien bringen sich weniger Menschen um als anderswo in Österreich - obwohl es einen innerösterreichischen Migrationsstrom von Menschen mit psychischen Problemen nach Wien gibt. Auch von Menschen mit Suchtkrankheiten. Die angeblich depressiven Wiener sind Teil der Kulturlandschaft dieser Stadt, mit Fakten hat das wenig zu tun.

Standard: Gibt es geografische Unterschiede in der psychischen Befindlichkeit von Menschen?

Psota: Weniger Sonne ist ein Problem. Es gibt Daten, die besagen, dass dort, wo weniger Sonne ist, mehr Depressionen und mehr Suizide vorkommen. Wir haben auch Datenlagen, die zeigen, dass dort, wo Täler sehr eng sind, wo Informationsdynamiken sehr rasch ein ganzes Tal erfassen - wenn es dort nur einen Suizid gibt, wird es gefährlich, was Folge-Suizide betrifft.

Standard: Wer hat am häufigsten Probleme - gibt es Unterschiede bei Frauen, Männern, Alten, Jungen?

Psota: Es gibt gravierende Unterschiede. Die Suizidrate im Alter ist deutlich höher. Es gibt weniger Versuche, dafür sind sie erfolgreicher. Das betrifft vor allem besondere Subgruppen der Männer.

Standard: Welche?

Psota: Alleinstehende, über 80-jährige Männer sind eine Hochrisikogruppe. Deren Suizidrate ist etwa zehnmal so hoch wie der Durchschnitt der Bevölkerung und bis zu 20mal so hoch wie verschiedene andere Subgruppen.

Standard: Was ist der Grund?

Psota: Wahrscheinlich ist es eine bio-psychosoziale Kombination, aber das ist nicht wirklich schlüssig erforscht. Biologisch passiert etwas im Alter, das Depressionen leichter entstehen lässt. Die Produktion von Serotonin und anderen Botenstoffen nimmt ab, es gibt zudem psychodynamische Faktoren. Männer dieser Altersgruppe haben traumatische Erlebnisse in Kriegen hinter sich - als Opfer und auch als Täter. Und es gibt den sozialen Faktor. Männer kommen vermutlich viel schlechter damit zurecht, alleine zu sein, können sich schlechter selbst versorgen.

Standard: Und die Frauen?

Psota: Alte Frauen haben auch Kriegs-Traumata erlebt. Viel öfter als Opfer, weniger als Täter. Aber es könnte sein, dass Frauen in der anthropologischen Dimension in vielen Bereichen, auch in der Verarbeitung, bessere soziale Kompetenzen erworben haben, damit umzugehen. Sie nützen auch Behandlungsangebote besser. Die weibliche Depression entspricht eher dem, was wir landläufig unter Depression verstehen. Die Verzweiflung, das Traurige, ist erkennbarer. Männer sind eher z'wider, grantig, gereizt bis aggressiv.

Standard: Sind die Menschen in manchen Bezirken kranker als in anderen?

Psota: Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Wir behandeln natürlich Patienten, die finanziell nicht sehr gut dastehen. Zu meiner enormen Empörung ist eine psychische Erkrankung oft auch mit sozialem Abstieg verbunden. Wir haben daher mehr Patienten aus dem 15. Bezirk als etwa aus dem 19. Bezirk, dem wohlhabenden Döbling. Das muss nicht bedeuten, dass die Menschen dort gesünder sind, sondern nur, dass sie sich eher private Ärztekonsultationen leisten können. (Petra Stuiber, DER STANDARD, 24.12.2012)