Auf dem aktuellen Cover des New Yorker ist ein Cartoon zu sehen, in dem der Weihnachtsmann ein Problem hat: Die Zeit drängt, dringend müsste er durch den Kamin nach draußen, um seine Lieferungen zuzustellen. Es ist schon zehn vor zwölf. Doch die Rentiere sitzen noch bei Tisch, starren gebannt in ihre Karten, die Einsätze beim Poker stapeln sich in der Mitte, und die Zugtiere denken gar nicht dran, sich auf den Weg zu machen. Dass auch Rentiere spielsüchtig sein könnten - darauf kann nur ein Zeichner kommen, dem zu Weihnachten etwas Witziges einfallen muss.
Schamanische Fähigkeiten
Aber der Cartoon hat seine eigene Wahrheit. Er verweist uns auf das komische Sammelsurium, das unsere Vorstellungen zu Weihnachten im Lauf der Jahrhunderte geworden sind. Weil der Weihnachtsmann durch den Kamin und aus der Luft kommt, ist er auch unabhängig von der Schneeräumung und Salzstreuung (oder vom Stau) auf den irdischen Straßen. Aber warum können Rentiere fliegen? Eine mögliche Antwort darauf gibt der Ethnologe Thomas Hauschild in seiner Geschichte des Weihnachtsmanns, in der er Zusammenhängen im Bereich des Schamanischen nachgeht.
Die sibirischen Völker der Tungusen und Ewenken haben gegenüber den mitteleuropäischen Völkern der Austrianer und Piefkinesen (nicht zu reden von den Amerikanern, die eine ganze Mythologie um die rote Nase Rudolphs entwickelt haben) immerhin den Vorteil der Gegenstandsnähe: Sie halten Rentiere, und sie halten viel auf ihre Schamanen. Zu den Vorzügen dieser Berufsgruppe zählt es, dass sie fliegen können (jedenfalls verfügen sie über so etwas wie einen inneren Flugsimulator).
Von diesem Privileg ist es nicht weit zu der Idee, dass die Rentiere mitfliegen können. Die pharmakologischen Umwege, die Hauschild dabei beschreibt, sind etwas unappetitlich. Die Schamanen nahmen nämlich, um das Gift des Fliegenpilzes zu dosieren, diesen in Form von Rentier-Urin zu sich, hoben also kontrolliert ab. Nach diesen Erkenntnissen klingt es beinahe schockierend, wenn Hauschild lakonisch schreibt: "Rudolph, das rotnasige Rentier, das seine Herrn als Nebelleuchte dienlich ist, stammt wohl letztlich aus Sibirien."
Hätten die Amerikaner das schon im Kalten Krieg gewusst, es wäre vielleicht früher zur Entspannung gekommen! Doch die Sache mit dem Fliegenpilz hätte Eisenhower sicher nicht so leicht verkraftet, trotz all der neuen Erkenntnisse über biochemische Kriegsführung, die damals sehr im Schwange war (im aktuellen New Yorker gibt es dazu einen großen Artikel, und da Hauschilds Studie dort noch nicht bekannt ist, könnte man geradezu von einer schamanischen Koinzidenz zwischen Cover-Cartoon und Hauptbericht sprechen).
Von Lappland nach London
Hauschild seinerseits übergeht ein ebenfalls erst in diesem Jahr erschienenes Werk des Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf, das sich populärwissenschaftlich mit sagenhaften Wesen wie Einhorn, Phönix und Co beschäftigt, und in dem der ganze Komplex " Nase-Rentier-Pilze-Julbrauch-Santa-Schlitten" (Hauschild) auch ausführlich zur Sprache kam. Man wird hier wohl von unabhängig voneinander konsultierten Forschungsergebnissen sprechen müssen.
Wie die Rentiere aus Lappland aber tatsächlich in die Imagination der gemäßigteren Breiten kamen, dazu lassen sich allenfalls Indizienketten zusammenstellen. Thomas Macho, Kulturwissenschafter in Berlin, berichtet in einem Vortrag über Zoologiken davon, dass 1822/23 in London, und zwar ausgerechnet in der Egyptian Hall, drei Lappländer mit Schlitten und Rentieren ausgestellt wurden - das war beeindruckend, wurde aber, wenn überhaupt, nicht sofort wirksam.
Erst 1868 tauchte ein Rentierschlitten in einer Zeichnung der amerikanischen Zeitschrift Harper's im Zusammenhang mit Weihnachten auf - ob das mit der Ausstellung zusammenhängt, lässt sich nicht erhärten. Das ist aber nicht weiter schlimm bei einem Motivkomplex, bei dem eine ganze Menge "weit hergeholt" ist.
Besser durchblutete Nasen
Die Sache mit der Nebelleuchte wurde kürzlich noch einmal untersucht und zwar von Professor Can Ince (Rotterdam) in Form einer "observational study", durchgeführt in Tromsö (unweit des Nordpols, worauf die Veröffentlichung im British Medical Journal eigens Wert legt). Drei gesunde menschliche Freiwillige, zwei Rentiere und ein menschlicher Patient mit nasaler Polyposis wurden untersucht, mit dem Ergebnis, dass Rentiernasen um 25 Prozent besser durchblutet sind als menschliche. Das heißt, sie haben eindeutig mehr Leuchtkraft als selbst Schnapsnasen. Ob in Tromsö der Weihnachtsmann am 1. April kommt, geht aus der Studie leider nicht hervor; das würde aber auch, wenn, dann nur die Zitationshäufigkeit mindern. So aber macht diese Studie gerade Karriere in den Massenmedien.
In Tromsö wird überhaupt intensiv mit Rentieren geforscht. So kam 2011 auch bei Professor Arnoldus Blix bei Untersuchungen über die innere Wärmeregulierung ein spezieller Blutkreislauf zutage, der die Exponiertheit der Nase zum Ausgangspunkt einer Gehirnkühlung macht, die nur dann "eingeschaltet" wird, wenn die Rentiere besonders schnell unterwegs sind. Also wohl vor allem um Weihnachten herum.
Vielleicht wollte uns der Cartoonist des New Yorker aber auch nur sagen: Rentiere lassen sich nicht gern in die Karten schauen. Und um fünf vor zwölf machen sie sich auf die Socken. Aber die Socken sind doch voll mit Geschenken? Doch das ist wieder eine andere Geschichte. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 24.12.2012)