
Christopher Prinz: "Die Menschen werden bis 70 arbeiten müssen - aber das ist nicht bedrohlich."
Wien - Die Österreicher müssten in Zukunft bis ins Alter von 70 Jahren arbeiten, damit das Pensionssystem finanzierbar bleibe: Diese Aussicht eröffnet Christopher Prinz, Pensionsexperte der OECD, im Interview mit dem STANDARD. Prinz sieht darin aber nichts Bedrohliches: "Warum das als Horrorzahl gilt, verstehe ich nicht. Nirgendwo in Europa ist die Lebenserwartung so stark gestiegen wie in Österreich."
Um den Leuten ein höheres Antrittsalter - derzeit liegt es bei 59 (Männer) und 57 Jahren (Frauen) - schmackhaft zu machen, plädiert Prinz für finanzielle Sanktionen. Einerseits müssten die Abschläge für Frühpensionisten auf sechs bis sieben Prozent pro Jahr steigen, andererseits brauche es Pönalen für Unternehmen, die ältere Beschäftigte in den Vorruhestand abschieben - und zwar so kräftige, "dass es schmerzt" . Nicht haltbar sei auf Dauer eine Pensionshöhe von 80 Prozent des letzten Bruttogehalts: "60 Prozent ist ein plausibles Niveau."
Die von der Regierung heuer verabschiedeten Reformen, etwa um die Invaliditätspensionen einzudämmen, lobt der Experte als "absolut richtig" . Doch der Erfolg hänge davon ab, ob die neue Philosophie auch gelebt werde: "Möglichst früh in Pension zu gehen ist tief in der österreichischen Seele verankert."
STANDARD: Viele Reformen kamen, doch die Skepsis blieb: Wird ein junger Mensch von heute einmal eine staatliche Pension bekommen, von der er leben kann?
Prinz: Diese Frage stellen wir uns seit 20 Jahren - doch aus der Erfahrung traue ich mich nicht, sie zu beantworten. Das liegt an einem einzigartigen Phänomen: Es gibt kein Land mit so vielen Reformen mit so wenig Effekt. Das durchschnittliche Antrittsalter zur Pension hat sich in den letzten 20 Jahren nicht verändert, es klebt bei Männern bei 59 Jahren und bei Frauen bei 57 Jahren. Möglichst früh in Pension zu gehen ist tief in der österreichischen Seele verankert, da spielen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenseitig in die Hände. Ich erinnere mich an meinen ersten Ferienjob bei der Post. Da gab's rund um die Uhr nur zwei Themen, und das bei jeder Altersgruppe: Beziehungsgeschichten, und wann gehe ich in Pension. Das war so wie die Stricherllisten beim Bundesheer bis zum Abrüsten.
STANDARD: Warum ist das so?
Prinz: Das wäre eine tiefenpsychologische Untersuchung wert. Sicher liegt es nicht daran, dass die Leute nicht mehr arbeitsfähig sind. In vergleichbaren europäischen Ländern arbeiten die Menschen um sieben Jahre länger.
STANDARD: Waren die vielen Reformen also die falschen?
Prinz: Nein. Es lag nicht an den Reformen selbst, sondern am politischen Willen, diese zu leben. Die höchst unpopuläre Reform der Schüssel-Regierung hatte sehr vieles Richtiges an sich, doch die Einführung der Frühpension für Langzeitversicherte unter dem Titel " Hacklerregelung" hat sie ausgehebelt und jeden Effekt zunichtegemacht. Damit hatte keiner gerechnet: Ich hätte es damals für unmöglich gehalten, dass das Pensionsalter nach dieser Reform um kein einziges Jahr steigt. So wurden immer wieder neue Wege aufgemacht, und kein Politiker hat sich drübergetraut, diese ein für alle Mal zu schließen. Mit der Alterung der Gesellschaft kann das nur schlimmer werden, denn die Pensionisten bestimmen mehr und mehr das Wahlverhalten.
STANDARD: Und die Pläne der aktuellen Regierung?
Prinz: Die nun eingeleiteten Reformen sind absolut richtig. Hält der Beschluss, die Hacklerregelung auslaufen zu lassen, fällt der zentrale Zugang zur Frühpension weg. Und wenn die Reform der Invaliditätspension so funktioniert wie geplant, könnte sie ein Schlager sein. Doch alles hängt von der Praxis ab: Gelingt es wirklich, gesundheitlich angeschlagene Leute zu rehabilitieren, statt in die Pension zu schicken? Mir fehlt etwas der Glaube. So wie es bisher lief, ist es wahrscheinlicher, dass die Leute einfach das Gleiche bekommen, nur eben unter dem Titel Rehabilitationsgeld statt Invaliditätspension.
STANDARD: Fehlen weitere Einschnitte?
Prinz: Die Abschläge für die Frühpension sind immer noch zu niedrig. Sie müssten bei sechs bis sieben Prozent pro Jahr liegen.
STANDARD: Wer drei Jahre früher in Pension geht, verliert laut Sozialministerium ein Viertel der Leistung, wenn man zu den Abschlägen auch die Einbußen durch die verlorenen Arbeitsjahre dazuzählt. Das klingt doch recht deftig.
Prinz: Trotzdem reicht es für viele, um sich möglichst rasch aus dem Arbeitsmarkt zurückzuziehen. Der Wert der Freizeit wiegt für die Leute die Verluste auf. Das ist aber nur die eine Seite. Auch die Arbeitgeber verhalten sich entsprechend, indem sie ältere Arbeitnehmer entweder nicht anstellen oder so früh wie möglich loszuwerden versuchen.
STANDARD: Wie lässt sich das verhindern?
Prinz: Mit Pönalen. Wenn ein Unternehmen Mitarbeiter in die Frühpension schickt, soll es einen Teil der Kosten tragen - und zwar so viel, dass es schmerzt. Auch die Lohnkurve ist ein Problem: Ein 55- bis 60-Jähriger verdient um 60 Prozent mehr als ein Junger, der frisch ausgebildet auf den Arbeitsmarkt kommt. Arbeitgeber stellen die Weiterbildung für Mitarbeiter über 45 ein, weil sie gar nicht mehr langfristig mit diesen planen.
STANDARD: Gibt's in Zeiten wie diesen überhaupt die Jobs, um die Menschen länger in Arbeit zu halten?
Prinz: Es gibt keinen statistischen Zusammenhang zwischen niedrigen Erwerbsquoten Älterer und höherer Beschäftigung bei den unter 50-Jährigen. Überdies sind Pensionsreformen längerfristig angelegt; die aktuelle Beschäftigungssituation ist kein Kriterium für deren Notwendigkeit.
STANDARD: Bis zu welchem Alter werden wir arbeiten müssen?
Prinz: Die starke Generation, die Anfang der Sechzigerjahre geboren ist, muss nicht nur ein bissl länger arbeiten, sondern dringend bis 65, damit sich die Pensionen finanzieren lassen. Und jüngere Menschen werden in Zukunft natürlich bis 70 arbeiten müssen, aber das ist auch in keiner Weise bedrohlich - sie leben ja auch bis 95. Warum das als Horrorzahl gilt, verstehe ich nicht. Nirgendwo in Europa ist die Lebenserwartung so stark gestiegen wie in Österreich.
STANDARD: Wie hoch können die Pensionen künftig sein?
Prinz: Dass man im Alter von 65 nach 45 Arbeitsjahren 80 Prozent des Bruttogehalts bis in alle Ewigkeit haben muss, wird nicht haltbar sein. 60 Prozent vom letzten Gehalt sind ein plausibles Niveau.
STANDARD: Ist die Pension dann nicht nur noch eine notdürftige Absicherung gegen Armut?
Prinz: Nein. 60 Prozent können im Alter den Lebensstandard sichern - darüber hinaus soll es Möglichkeiten geben, dass sich der einzelne mit etwas Risiko etwas anspart. Wir fahren gut mit dem aktuellen Umlagesystem. Aber es wird beim Übergang vom Beruf in die Pension einen größeren Bruch geben. (Gerald John, DER STANDARD, 27.12.2012)