Der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig erkennt derzeit noch keinen richtigen Durchbruch der personalisierten Medizin - weder in der Onkologie noch bei anderen Erkrankungen.

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Im Gespräch mit derstandard.at plädiert der deutsche Onkologe Wolf-Dieter Ludwig für mehr seriöse Studien, ärztliche Weiterbildungen in der medizinischen Genetik und eine nüchterne Bewertung der Erfolgsaussichten der personaliserten Medizin. 


derStandard.at:
Die Onkologie ist das Kerngebiet, in dem an molekulargenetischen Veränderungen für eine bessere Behandlung von Krebspatienten geforscht wird.

Ludwig: Das liegt daran, dass wir in der Onkologie das Problem haben, dass wir gegenwärtig viele neue, sehr teure Medikamente ungezielt einsetzen müssen, ohne zu wissen, ob sie tatsächlich besser wirken als beispielsweise ältere Zytostatika. Bei einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung profitieren häufig nur etwa 20 Prozent der Patienten von diesen neuen Wirkstoffen - 80 Prozent aber nicht. Wir waren bisher kaum in der Lage, die 20 Prozent, die auf die Therapie ansprechen, anhand genetischer Merkmale frühzeitig, also vor Therapiebeginn, zu identifizieren. Unsere Hoffnung ist daher, dass wir mit aussagekräftigen, gut validierten Biomarkern besser vorankommen. Allerdings gibt es bisher erst wenige Beispiele, die erfolgversprechend sind. 

derStandard.at: Es gibt also noch keinen wirklichen Durchbruch?

Ludwig: Einen richtigen Durchbruch erkenne ich derzeit nicht - weder in der Onkologie noch bei anderen Erkrankungen. Ich habe den Eindruck, dass die Vermarktung der neuen Therapien wesentlich erfolgreicher ist als die medizinischen Erfolge, die durch diese Wirkstoffe erzielt werden. Wir brauchen deshalb unbedingt seriöse, wissenschaftlich fundierte Untersuchungen, um besser beurteilen zu können, bei welchen Subgruppen neue Wirkstoffe einen überzeugenden, für Patienten relevanten Nutzen bringen. 

derStandard.at: Sind die Studien derzeit unseriös?

Ludwig: Wir werden vorwiegend mit Studien konfrontiert, deren vorrangiges Ziel es ist, mit einem neuen Medikament positive Ergebnisse zu liefern und es schnell auf den Markt zu bringen. Dementsprechend werden klinische Studien geplant und durchgeführt. Nicht selten werden sie aufgrund positiver Ergebnisse auch vorzeitig abgebrochen. Das ist für die Patienten, die später das neue Medikament erhalten, wenig hilfreich.

Wir kümmern uns viel zu wenig um die Aspekte nach der Zulassung - klinische Untersuchungen, die gerne unter dem Begriff "Versorgungsforschung" subsumiert werden. Das ist aber die klinische Forschung, die die Realität in der Versorgung von häufig älteren Tumorpatienten mit zahlreichen Begleiterkrankungen widerspiegelt - nicht die handverlesenen Patienten, die in Studien mit strikten Ein- und Ausschlusskriterien untersucht werden. 

derStandard.at: Ab wann ist eine Studie aussagekräftig genug?

Ludwig: Bisher wurden meistens Proben von Krebspatienten aus Zellbanken nach Biomarkern untersucht und dann retrospektiv ausgewertet, ob diese Patienten auf die neue Therapie ansprechen - ohne aber eine Vergleichsgruppe mit Patienten zu haben, die weiterhin eine Standardtherapie erhalten. Das macht wenig Sinn. Nur ein prospektiver Vergleich von Standardtherapie und neuer Therapie bei Subgruppen von Patienten, die anhand von Biomarkern identifiziert werden können, ist sinnvoll. Gibt es dann tatsächlich eine längere Überlebenszeit oder weniger Nebenwirkungen durch die neue Therapie im Vergleich mit der Standardtherapie - oder gar eine Heilung? 

derStandard.at: Ist es denn vertretbar, dass viel Geld in die personalisierte Medizin fließt?

Ludwig: Dass man diesen kostenintensiven Weg zunächst weiter verfolgt, halte ich für wichtig, um der derzeit in der Onkologie häufig praktizierten Strategie entgegenzuwirken, sehr teure Medikamente ungezielt einzusetzen. Demgegenüber ist es ethisch nicht vertretbar, für ein unzureichend geprüftes Medikament mit marginalem Nutzen und möglicherweise schweren Nebenwirkungen Jahrestherapiekosten zwischen 50.000 und 80.000 Euro pro Patient zu bezahlen. Wir brauchen für neue onkologische Wirkstoffe vernünftige, in klinischen Studien validierte Biomarker, um frühzeitig - möglichst bereits bei Diagnose - die Patienten zu erkennen, bei denen diese Medikamente gut wirken oder aber unwirksam sind.

derStandard.at: Dennoch halten sich die Erfolge in Grenzen. Wäre das Geld unter diesem Gesichtspunkt in anderen Bereichen nicht besser investiert?

Ludwig: In den vergangenen zehn Jahren wurden Milliardenbeträge für zielgerichtete Therapiestrategien in der Onkologie eingesetzt, ohne dabei deutlich bessere Ergebnisse für die Patienten zu erzielen. Wir Onkologen müssen uns deshalb selbstkritisch fragen, ob dieses Geld nicht in der Tumorprävention oder palliativmedizinischen Betreuung von Patienten besser angelegt gewesen wäre.

Den Stellenwert der "personalisierten Medizin" und der Investitionen in diesen Bereich heute zu beurteilen, ist sehr schwierig, weil wir noch ganz am Anfang stehen. Wir können im Augenblick nicht abschätzen, ob damit in absehbarer Zeit wirklich überzeugende Therapieerfolge erzielt werden können. Auf alle Fälle müssen wir die Erfolgsaussichten zur Abschätzung von Krankheitsrisiko, Diagnostik und Therapie wesentlich nüchterner bewerten und den Hype um die "personalisierte Medizin" viel kritischer sehen als es derzeit in den Medien, aber auch von vielen Ärzten getan wird. 

derStandard.at: Wo sehen Sie Probleme in der praktischen Umsetzung der personalisierten Medizin?

Ludwig: Die Kenntnisse der Ärzte in den Bereichen Epidemiologie, medizinische Genetik und medizinische Statistik müssen verbessert werden, auch um angesichts der Fülle an molekulargenetischen Daten Patienten adäquat informieren und unnötiger Verunsicherung vorbeugen zu können. Das erfordert sicher ein Umdenken, angefangen im Medizinstudium und dann in der Fort- und Weiterbildung, damit alle Ärzte gewisse Mindestkenntnisse über Möglichkeiten und Grenzen der "personalisierten Medizin" erfüllen. Außerdem müssen natürlich die Daten, die dabei erhoben werden, geschützt werden und Ärzte sich ihrer Verantwortung diesbezüglich bewusst sein. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 28.12.2012)

>> Zum Artikel: Wenn Gene die Therapie bestimmen