Die Schüler in der Türkei müssen keine Schuluniform mehr tragen. Der 15-jährige Batuhan (rechts) bedauert allerdings, dass er trotzdem kein Trikot seines Lieblingsteams Fenerbahçe tragen darf.

Foto: Markus Bernath

Wenn es Abend wird in Istan- buler Teenager-Zimmern, dann bleibt das Mathematikbuch jetzt zu und der Kleiderschrank geht auf zur eingehenden Inspektion. "Abends können Schüler nicht mehr an den Unterricht denken, sondern an das, was sie morgen anziehen werden", sagt Büsra, und es klingt kein bisschen kokett. Die 16-jährige Schülerin macht sich in der Tat Sorgen. Drill und Disziplin haben bisher an türkischen Schulen geherrscht. Nun lockert ausgerechnet die konservativ-muslimische Regierung die Zügel und lässt den Zwang zum Uniformtragen fallen.

Eigentlich gilt der Erlass des Bildungsministeriums erst ab dem Schuljahr 2013/2014. Doch ganz ähnlich wie beim faktischen Ende des Kopftuchverbots an den Universitäten vor zwei Jahren preschen untergeordnete Behörden vor und schicken - zweifellos mit Billigung der Regierung - schon Rundschreiben an die Direktoren.

Am Technischen Gymnasium in der Moda Caddesi, wo Büsra zur Schule geht, ist das so. "Das Schreiben kam gerade", erzählt Batuhan, ein Mitschüler aus der 9. Klasse. "Wir dürfen bereits verschiedene Kleidung tragen. Sie muss nur dunkel oder schwarz sein. Und keine kurzen Röcke oder eng anliegende Sachen für die Mädchen. Auch keine Fenerbahçe-Trikots", stellt der 15-Jährige mit Bedauern fest. Der Stadtteil Moda auf der anatolischen Seite von Istanbul ist nicht nur eine Hochburg der Liberalen und der Kemalisten, sondern auch des milliardenschweren Fußballklubs Fenerbahçe mit seinen gelb-blauen Farben.

Wettbewerb mit Marken

Im Gymnasium an der Moda Caddesi trägt man bisher sandfarbene Uniformen: eine Hose, ein Pulli und ein langärmeliges T-Shirt für den Winter, ein kurzes für den Sommer, Bluse und Rock für die Mädchen - das war die Garderobe, Montag bis Freitag und Jahr für Jahr. Die Mehrheit der Schüler hier findet das im Grunde auch ganz richtig. Nicht jeder sei in der selben wirtschaftlichen Lage, erklärt Burcu, eine andere 16-jährige Gymnasiastin. Sie sieht schon in der Klasse den Wettbewerb um die teuersten Klamotten kommen. Schlecht sei der Wegfall des Uniformzwangs, pflichtet ihr Batuhan bei. "Ich kann mir Adidas leisten, aber ein anderer Schüler nicht. Er wird dann in den Basar gehen", sagt Batuhan und meint damit die billigen Fälschungen von Markenartikeln, die dort feilgeboten werden. Auch der junge Türke macht sich Sorgen: "Ich fürchte, dass ich den Stolz der anderen verletze."

Den Sinn für Gerechtigkeit hat ihnen die republikanische Schulerziehung eingetrichtert, den Sinn fürs Pragmatische haben die Schüler selbst. Angesichts der unverhofften neuen Freiheit kommen nun einige in schwarzen Jeans und Wolljacken zum Unterricht, auch wenn sie die Aufhebung des Uniformzwangs eigentlich ablehnen; Burcu macht das so, und zehn von 40 Schülern in Batuhans Klasse. "Diese Schule hier war sehr strikt. Sie haben genau auf die Kleidung geachtet", erklärt Nihal, eine Zehntklässlerin. "Jetzt, wo wir die Chance bekommen haben, zu tragen, was wir wollen, nutzen wir sie auch."

Für andere ist die abendliche Planung vor dem Kleiderschrank ein Muss geworden. "Meine Motivation, in die Schule zu gehen, ist jetzt viel größer", sagt Melike.

Der Wegfall des Uniformzwangs gehört zu den Maßnahmen zur " Entmilitarisierung" der türkischen Schulen. Das Massenturnen der Schüler in Stadien im Mai zu Ehren des Republikgründers Atatürk hat die Regierung bereits abgeschafft, ebenso wie den "Sicherheitsunterricht" durch das Militär. Kurdisch als Wahlfach gibt es seit Beginn dieses Schuljahrs - undenkbar in Atatürks Einheitsstaat.

Die fromme Regierung von der Partei für Gerechtigkeit und Justiz (AKP) nutzte die Liberalisierung der Kleiderordnung, um auch gleich das Kopftuch für Schülerinnen im neuen, offiziell frei wählbaren Koranunterricht einzuführen. "Bald werden wir überhaupt den Schleier tragen", sagt Nihals Freundin Eda. Sie meint es als Scherz, aber ganz wohl ist ihr angesichts der augenscheinlichen Großzügigkeit der AKP-Regierung dann doch nicht. (Markus Bernath, DER STANDARD, 2.1.2013)