Mund als Geschlecht: "Inflatable Gentleman."

Foto: Paul DeFlorian

Linz - Neuer Wiener Wangenplüsch: So könnte man jene gepflegten Friedrich-Engels-Bärte nennen, deren in tadellosen Anzügen steckende Träger jüngst einer Tanzveranstaltung einen Hauch Marxismus verliehen. Womöglich lösen die XL-Vollbärte nun die Mos (Moustaches) der Hipster und die Burt-Reynolds-artigen Porno-Schnauzer ab?

Spätestens seit den Soul- Patches der Nullerjahre gilt das Barthaar wieder als Erkennungszeichen kollektiver Identitäten, ob als vom Kommerz gesteuertes modisches Accessoire oder als Ausdruck politischer Haltung. Das hippe und in Magazinen allgegenwärtige Phänomen Bart gibt Anlass zur Frage, wie viel subversive Kraft im Gesichtshaar steckt.

Vollmilch heißt die von Thomas Edlinger kuratierte Ausstellung - ein perfektes Subthema zum Genderthema von Der nackte Mann im Linzer Lentos, das gerne einmal ausführlicher behandelt werden darf. Der Titel - eine Wortkreation aus Voll- und Milchbart - zeigt, dass dabei nicht nur didaktische Strenge waltet. Dem Betrachter bleibt also eine ausführliche Geschichte des Barts erspart. Statt also einer Genese des Vollbarts vom Ausdruck vorzivilisatorischer Wildheit bis zur rebellischen Geste in der Gegenkultur der Hippies, liefert der Londoner Fotograf Jonathan Daniel Pryce eine komprimierte Londoner Bartmodenschau 2012. In 100 Bärte, 100 Tage führt er neben "neorustikalen Truckerbärten" auch ethnische oder kulturell bestimmte Gesichtsbehaarungen vor.

Schwerpunkt bilden feministische Umdeutungen bei Künstlerinnen wie Eleanor Antin, die in der Serie The King of Solana Beach (1974-75) den Bart als Machtsymbol vorführt, oder bei Katrina Daschner, bei der ein Häkelbart eine Variante weiblicher Gesichtsverhüllungen darstellt. Marlene Harings Zitat von Gustave Courbets Ursprung der Welt - sie inszeniert den Mund als eine von Haar umgebene Spalte - findet in Paul DeFlorians Inflatable Gentleman Verstärkung: Auch er reduziert das männliche Gesicht auf diese sexualisierte Öffnung.

Popkulturelle Exkurse im Videoformat dürfen bei Edlinger nicht fehlen. Sie reichen von CocoRosies queeren Maskeraden bis zu dem mit gegenläufigen Männlichkeitsbildern spielenden Sänger Scott Matthew. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 8.1.2013)