Ruine in Rosso veneziano in einer vom Tourismus vergessenen Gegend: das geschichtsträchtige Paradiso in der winterlichen Landschaft.

Foto: Sabine Gruber

Das Schneefeld vor mir ist unberührt. Nur an einer Stelle hat Wild Spuren hinterlassen, die Richtung Wald führen. Ich stehe auf 2160 Meter Höhe am Ende des Südtiroler Martelltals, in einer vom Tourismus vergessenen Gegend. Für einen Wintertag ist es warm. Die milden Temperaturen und geringen Niederschläge ziehen vereinzelt Wanderer an, aber ihre Route verläuft weiter hinten Richtung Zufallspitzen und Cevedale. Ich habe, vom Vinschgau kommend, 1400 Höhenmeter zurückgelegt, bin durch Wälder gefahren, habe Felsen überwunden und zuletzt einen Stausee passiert, hinter dem sich, von der Mittagssonne beleuchtet, das Ortlermassiv erhebt. Weiße Zacken hinter hellblauem Gletscherwasser. Ein Freund, der häufig in Südamerika unterwegs ist, vergleicht dieses Stück Hochlandschaft mit Patagonien.

Bald nach dem künstlichen Zufrittsee und nach einer allerletzten Talstufe hört die enge, kehrenreiche Straße auf. Nachdem ich den Wagen geparkt habe, spaziere ich über eine Holzbrücke auf die andere Seite des Bergbaches, dorthin, wo sich der Talschluss noch einmal weitet.

Im Sommer blühen hier Kohlröschen, Silberdisteln, Arnikas und Enziane. Die Gegend ist Teil des 134.620 Hektar großen Nationalparks Stilfser Joch, der an andere Schutzparks wie den Nationalpark Engadin und den Naturpark Adamello-Brenta grenzt, so dass von einem der größten Schutzgebiete Europas gesprochen werden kann.

Mitten in dieser stillen Natur, umgeben von Lärchen und Zirbelkiefern, steht ein halbverfallenes, monumentales Gebäude mit Pultdach und konkav geschwungener Fassade: das einstige Luxushotel Albergo Sportivo Valmartello al Paradiso del Cevedale. Es ist in Rosso veneziano gestrichen, der Lieblingsfarbe des vorletzten Besitzers, eines venezianischen Reeders, der es in den Sechzigerjahren den Inhabern der Bierbrauerei Forst weiterverkauft hat. Ursprünglich war das Gebäude grün gewesen, es sollte sich in die Natur eingliedern, blieb aber aufgrund seiner Größe und des ungewöhnlichen futuristischen Baustils stets ein Fremdkörper in der bäuerlichen Kulturlandschaft.

Die ärmlichen Talbewohner waren in den frühen Dreißigerjahren gegen den Bau gewesen, weil sie befürchtet hatten, dass durch ihn wichtiges Weideland verlorengehen könnte. Außerdem sahen sie in dieser einfachen und klaren, sich vom Tiroler- und Habsburgerstil abhebenden neuartigen alpinen Architektur ein weiteres Symbol der Italianisierungspolitik durch die Faschisten.

Das Hotel war, unterstützt von der Regierung Mussolinis und dem italienischen Verkehrsministerium, von dem Mailänder Architekten Gio Ponti unter der Führung von Oberst Emilio Penatti zwischen 1933 und 1935 gebaut worden. Für Ponti, den Begründer des Architekturmagazins Domus, blieb das Paradiso del Cevedale der einzige Hotelbau; später entwarf er u. a. den Pirelli-Turm in Mailand und die Innenausstattung des Luxusliners Andrea Doria, der im Juli 1956 auf dem Weg nach New York mit einem schwedischen Passagierschiff kollidierte und sank. Eine ähnliche Katastrophe wie beim Untergang der Titanic konnte durch zu Hilfe kommende Schiffe verhindert werden. Dass das Hotel Paradiso Anfang der Dreißigerjahre - wie übrigens eine Reihe anderer Bauten an entlegenen Orten der Alpen - vom Stile internazionale und von der Bauhausidee geprägt war, erkannten die Einheimischen nicht; für sie war der moderne Pultdachbau nichts anderes als ein "Schupf" (Schuppen). Ich bin schon mehrmals zu unterschiedlichen Jahreszeiten hierhergekommen, doch nie im Winter. Die Schatten der Wolken ziehen über das Schneefeld. Das Rosso veneziano der Fassade bringt im Mittagslicht das Haus zum Leuchten.

Thomas Bernhard hat das Hotel im Stimmenimitator erwähnt; naturgemäß neigte er zu Übertreibungen: Das Gebäude wurde nicht von über tausend, sondern von etwa hundert Arbeitern errichtet, und es verfügt auch nicht über zwölf Stockwerke, sondern über fünf. Doch ist die Gegend tatsächlich "eine der unberührtesten in den Alpen überhaupt" und bis heute kaum erschlossen. Statt Bergbahnen und Skilifte zu errichten, setzten die Talbewohner seit den Sechzigerjahren auf den Anbau von Gemüse und Beeren. In Höhenlagen bis zu 1700 Metern werden Erdbeerplantagen kultiviert - das Tal gehört zu den regenärmsten der Ostalpen. Ob man deswegen auf die Idee gekommen war, hier ein Luxushotel zu errichten? Vielleicht suchte man bloß einen spektakulären Ort, dessen unruhige Silhouette den klaren Baustil unterstrich? Oder wollte man mit diesem modernen Koloss ein Südtiroler Naturparadies faschistisch markieren, das zwei Jahrzehnte zuvor noch Teil der österreichischen Monarchie gewesen war?

Das Herankarren von Ziegeln, Zement und Sand musste auf dieser Meereshöhe kostspielig gewesen sein; ohne die Mithilfe heimischer Arbeiter, die auf der Großbaustelle werkten, wäre das Hotel wohl kaum so schnell errichtet worden. Außerdem versorgten die Martelltaler das Haus mit frischen Eiern, Fleisch und anderen Naturalien, verdienten mit Rucksack- und Schrankkofferschleppen ein Zubrot und brachten die reichen internationalen Touristen, vor allem aber faschistische Funktionäre, Wirtschafts- und Finanzbosse im Winter von der Bahnstation Goldrain in Schlitten zum Berghotel. Den Gästen, die auch aus Japan anreisten, wurde jeder Luxus geboten: ein eigenes Post- und Telegraphenamt, ein Lesesaal mit englischem Kamin, eine Taverne, und für das körperliche Wohlbefinden waren ein Friseur, ein Masseur und Skilehrer zuständig; es gab sogar eine Sauna.

In dem Dokumentarfilm Paradiso del Cevedale der Südtiroler Filmemacherin Carmen Tartarotti erzählen Bauersleute, dass das erste Wort, das sie auf italienisch gelernt hätten "mangiare" (essen) gewesen sei. Man habe in den Dreißigerjahren für drei Lire plus Kost gearbeitet. Die Gänge des Hotels seien mit teuren Teppichen ausgelegt gewesen, und die Kellner hätten beim Schälen der Orangen weiße Handschuhe getragen. "Die Kühe", beklagte sich ein Bauer, "sollten nicht mehr scheißen!"

Quartier und Naziversteck

Nachdem Italien im Herbst 1943 kapituliert und Mussolini die Macht verloren hatte, zogen die Deutschen im Paradiso ein. Von da an, so eine ehemalige Bedienstete, habe man das Gebäude nur mehr in Socken betreten dürfen. Die SS benutzte es als Spionageschule für alle Waffengattungen. Man beobachtete vom Hotel aus die Berge und schoss auf Deserteure, die über das Ortlermassiv in die Schweiz zu flüchten versuchten. Neben anderen Burgen und Villen in Meran und Umgebung diente auch das Paradiso als Quartier und Versteck für Vertrauensleute von Schieberbanden, die sich schon früh auf alle Eventualitäten vorzubereiten begannen. Da der Krieg bald enden würde, deckten sich einige Nazis wie SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend mit Aktien und Gold ein, eröffneten Konten in Liechtenstein und in der Schweiz und ersannen mögliche Fluchtwege.

1944 waren Soldaten der SS- Division Brandenburg im Hotel Paradiso; sie hätten - wie eine Bäuerin erzählte - in Saus und Braus gelebt, während man an der Front längst gehungert habe. In der ersten Woche seien sie noch freundlich gewesen, in der zweiten hätten sie nur noch Befehle erteilt. SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny, ein gebürtiger Wiener, der das Unternehmen Eiche geleitet und Mussolini aus der Gefangenschaft der Regierung Badoglio am Gran Sasso befreit hatte, soll angeblich als Prämie für die erfolgreiche Operation einen vierwöchigen Urlaub im Paradiso geschenkt bekommen haben.

Obwohl sich das Hotel nach dem Krieg wieder regen Gästezuspruchs erfreute, ging es ein Jahr später, 1946, in Konkurs. 1952 erwarb es der venezianische Reeder Arnaldo Bennati, der durch Immobilienspekulationen reich geworden war, ließ es neu anmalen und erweiterte es durch Zubauten. Er überlegte, die Gäste bei starkem Schneefall mit einem Hubschrauber herbringen zu lassen. 1955 änderte Bennati, dem auch das Hotel Bauer-Grünwald in Venedig gehörte, seine Meinung über die Zukunft des Paradiso und überließ es in unfertigem Zustand seinem Schicksal. Seit den frühen Fünfzigern steht es leer. Eine Zeitlang wurde das Gebäude noch überwacht, dann völlig sich selbst überlassen, was dazu führte, dass es nach und nach all seiner beweglichen Inventargüter beraubt wurde. Ponti hatte für jedes einzelne Zimmer individuelles Mobiliar entworfen.

Die jetzigen Besitzer, die Inhaber der Bierbrauerei Forst, sollen das Hotel nicht mehr in Betrieb genommen haben, weil sich der Staat geweigert hatte, die Straße, die noch immer am Stausee aufhört, dorthin zu verlängern. Nur "ein schlecht befestigter Almweg geht das Stück weiter. Die letzte Brücke vorm Paradies ist für schwere Fahrzeuge nicht passierbar", steht in Franz Tumlers Buch Das Land Südtirol. Ein Glück. Wäre die Zufahrt geteert und die Brücke erneuert worden, hätten die Deutschen in dieser Idylle möglicherweise nicht nur den Umgang mit Sprengstoffen, sondern auch mit Panzern geübt.

Über mir glaube ich einen Bartgeier zu erkennen. Ich denke an den Hirten, der noch lange nach Kriegsende Adler an der immer selben Stelle kreisen sah. Man fand dort zwei Leichen, welche die SS in die Schlucht geworfen hatte. Kleidung und Erkennungsmarken waren noch da; die Toten wurden in Schlanders begraben.

Auf dem Weg zum Auto gehe ich noch einmal über das Schneefeld, die Ruine im Rücken, dieses Rot, das an eingetrocknetes Blut erinnert.

Ich sehe nur meine eigenen Tritte.   (Sabine Gruber, Album, DER STANDARD, 12./13.1.2013)