Situationen, in denen Kinder und Jugendliche ihren älteren Familienangehörigen sprachlich und wissenstechnisch hilfreich zur Seite stehen, gehören zum Alltag der Behörden.

Foto: http://istockphoto.com/vgajic
Foto: http://www.transcript-verlag.de

Normalerweise zeigen die Eltern den Kindern, wo es in der Gesellschaft langgeht: wie die Institutionen funktionieren, wo man welche Bestätigungen bekommt, welchen Arzt man bei welchen Beschwerden aufsuchen muss. Was ist aber, wenn die Kinder diejenigen sind, die sich besser auskennen als ihre Eltern? Wenn Kinder leichter an Informationen herankommen und ihren Eltern erklären können und müssen, wie die Welt um sie herum funktioniert?

Kinder als Dolmetscher und Anwälte

In Migrantenfamilien kommt eine solche Rollenumkehr häufig vor. Durch die Schule lernen die Kinder schneller Deutsch als ihre Eltern, sind besser vernetzt und informiert. Meistens müssen sie ihre Eltern bei Behördengängen unterstützen, als Dolmetscher oder gewissermaßen als "Anwälte" fungieren, und erleben ihre Eltern in der Interaktion mit Amtspersonen oft als machtlos und hilfsbedürftig.

Übersetzen als Normalität

Situationen, in denen Kinder und Jugendliche ihren älteren Familienangehörigen sprachlich und wissenstechnisch hilfreich zur Seite stehen, gehören zum Alltag der Behörden: Ob in Krankenhäusern, bei der Polizei, am Jugendamt, bei der Pensionsversicherungsanstalt oder beim Elternsprechtag - solche Gesprächssituationen sind zahlreich und gehören bei den jeweiligen Behörden ebenso zum Alltag wie bei den betroffenen Migrantenfamilien.

"Unsichtbare Spracharbeit"

"Unsichtbare Spracharbeit" nennt daher Vera Ahamer, die Autorin des gleichnamigen Buches, dieses hochaktuelle Phänomen, das in der Forschung und in der Integrationsdebatte bisher kaum Beachtung fand. Ahamers translationswissenschaftliche Doktorarbeit beschäftigt sich umfassend mit der Frage, wie alle Beteiligten - die jugendlichen Laiendolmetscher, die Eltern, Schuldirektoren und andere Behördenvertreter - solche Gesprächssituationen erleben, in denen die Kommunikation nur dank der sprachlichen Expertise der jüngsten Gesprächsteilnehmer stattfinden kann. Sie sprach mit Vertretern aller drei Gruppen und wertete die Interviews qualitativ aus.

Unter Druck

Ahamer untersucht das Phänomen "Kinder als Dolmetscher" vor dem Hintergrund der Gesetzeslage und der vorherrschenden Integrationsdebatte. Die an und für sich vernünftige Forderung, Deutsch zu lernen, wird durch ihre Verknüpfung mit rechtlichen Rahmenbedingungen vielfach als Überforderung erlebt. Selbstverständlich spüren die Kinder intuitiv den Druck, dem ihre Eltern ausgesetzt sind.

Jenseits von "arm" und "böse"

Wer nach einfachen Zuschreibungen - hier die "armen" Migranten, dort die "bösen" Behörden - und simplen Lösungen Ausschau hält, wird in diesem Buch nicht fündig werden. Der Blick der Autorin auf die Umstände, in denen migrantische Jugendliche als Dolmetscher fungieren, ist ein sensibler und ins Detail gehender. Sie bezieht neben sprachlichen und kulturellen auch soziologische, psychologische, soziolinguistische und integrationspolitische Aspekte ein.

Elf Thesen

Dem kompetenten (Ein-)blick der Autorin ins Forschungsfeld ist es auch zu verdanken, dass am Ende der Untersuchung keine eindeutigen Empfehlungen stehen, sondern elf Thesen, die die gesamte Bandbreite der Übersetzungssituation umfassen: von Scham und Stolz bei den dolmetschenden Jugendlichen über Risiken und Chancen für die Eltern bis hin zu Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Institutionen. Die zahlreichen Interviews des Bandes illustrieren eindrücklich, dass im Phänomen der jugendlichen Dolmetscher nicht nur Probleme, sondern auch Potenziale stecken. (Mascha Dabić, daStandard.at, 16.1.2013)