Ines-Jacqueline Werkner: "Die Umstellung der meisten europäischen Streitkräfte auf Freiwilligenarmeen resultiert aus einem veränderten Aufgabenspektrum heraus."

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Der seit Monaten andauernden Diskussion über Wehrpflicht oder Berufsheer in Österreich stellt die deutsche Militärsoziologin Ines-Jacqueline Werkner kein gutes Zeugnis aus. "Eine Debatte, welche die dahinterstehenden sicherheits- und gesellschaftspolitischen Aspekte beleuchtet und kritisch hinterfragt, findet nicht statt." Mit derStandard.at sprach Werkner über die Umstellung auf ein Berufsheer in Deutschland und darüber, dass die Abschaffung der nationalen Heere gar keine so utopische Idee ist.

derStandard.at: Am Sonntag stimmen die Österreicher über Wehrpflicht oder Berufsheer ab. Wie bewerten Sie das Niveau der Debatte?

Werkner: Es erfolgt ein Schlagabtausch der gängigen und auch schon langjährig diskutierten Pro- und Kontra-Argumente. Eine Debatte, welche die dahinterstehenden sicherheits- und gesellschaftspolitischen Aspekte beleuchtet und kritisch hinterfragt, findet nicht statt.

Diese müsste sich sehr viel stärker mit dem Stellenwert der Neutralität befassen, den künftigen sicherheitspolitischen Verpflichtungen in Europa - aber auch mit der gesellschaftspolitischen Frage, was eine aktive Teilhabe am öffentlichen Leben sicherstellen kann, wenn Massenheere nicht mehr benötigt werden.

derStandard.at: Befürworter sagen, das Bundesheer repräsentiere durch die allgemeine Wehrpflicht das gesamte Spektrum der Gesellschaft. Würde eine Berufsarmee einen Kulturwandel bewirken?

Werkner: Eine Wehrpflichtarmee als breiter Querschnitt der Gesellschaft, das findet sich nur noch in der Theorie. Länder, die eine hohe Wehr- beziehungsweise Dienstungerechtigkeit aufweisen oder durch hohe Zivildienstraten geprägt sind, sind in der Regel weit von diesem Ideal entfernt.

derStandard.at: Warum ist die Wehrpflicht mit so vielen Emotionen verbunden?

Werkner: In Österreich ist die allgemeine Wehrpflicht eng an die Neutralität gekoppelt. So hat sich mit der immerwährenden Neutralität eine antimilitaristische Tradition herausgebildet, die stark auf Landesverteidigung, aber nur sehr begrenzt auf internationales und multilaterales Engagement setzt.

derStandard.at: In Deutschland wurde die Wehrpflicht unter CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ausgesetzt. Hätten Sie sich auch für Deutschland eine Volksbefragung gewünscht?

Werkner: Nein, unser Grundgesetz sieht Volksentscheide auf Bundesebene auch kaum vor. Das verhält sich in Österreich anders, wenn es auch nur selten genutzt wird.

derStandard.at: Oft ist zu hören: Das Volk eine derart tiefgreifende Entscheidung treffen zu lassen sei problematisch, da viele Informationen fehlen.

Werkner: Dass die Komplexität heutiger Themen eine einfache Abstimmung nicht zulasse, ist das klassische Argument gegen plebiszitäre Elemente. Aber letztlich steht am Ende jeder politischen Debatte eine Entscheidung. Da kann eine Volksbefragung gerade bei kontroversen Themen durchaus die Chance bieten, den gesellschaftlichen Rückhalt einer politischen Entscheidung zu sichern.

Letztlich hängt es aber stark vom politischen System ab. Nehmen Sie die Schweiz. Dort werden wichtige Gesetze und auch Verfassungsänderungen häufig einem Referendum unterworfen. So stimmten die Schweizer zweimal, 1989 und 2001, über die Abschaffung ihrer Armee ab - in beiden Fällen mit negativem Ausgang.

derStandard.at: Deutschland hat die Wehrpflicht relativ schnell ausgesetzt. War der Wechsel auf das andere System zu abrupt?

Werkner: So ganz kurzfristig erfolgte die Aussetzung der Wehrpflicht nicht. Zum einen gab es eine langjährige Wehrpflichtdebatte, zum anderen hatten sich die Wehrstrukturen angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage und der damit zusammenhängenden Reformen der Bundeswehr seit 1990 dem Wandel des Wehrsystems schon weitgehend angepasst.

Von 1990 bis 2010 halbierte sich nicht nur der Streitkräfteumfang der Bundeswehr, sondern auch die Wehrpflichtrate. Das heißt, der Anteil der Wehrpflichtigen an den Streitkräften ging drastisch zurück, von etwa 44 auf 13 Prozent. Damit war die Umstellung auf Freiwilligenstreitkräfte kein allzu großer Schritt mehr. Für Länder, deren Wehrpflichtraten höher liegen, gestaltet sich der Wechsel unter Umständen schwieriger.

derStandard.at: Derzeit ist das Militär durch die Wehrpflicht relativ gut in der Gesellschaft verankert. Würde die Abschaffung das ändern?

Werkner: Die Wehrpflicht gilt als starker Faktor für die Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft. Das trifft sicherlich für Massenheere zu. Bei immer geringer werdenden Streitkräfteumfängen und Wehrpflichtanteilen reduziert sich diese Wirkung jedoch deutlich.

Aber auch Freiwilligenstreitkräfte können gut in die Gesellschaft integriert sein. Hier gibt es in Europa verschiedene Ansätze - angefangen vom notwendigen Wissen über die Streitkräfte und einer Verankerung des Themas in Lehrplänen über Möglichkeiten von Praktika in der Armee bis hin zu freiwilligen Gemeinschaftsdiensten, die auch eine militärische Komponente beinhalten. Eine ergänzende Bürgerreserve könnte nicht nur den Heimatschutz und die Katastrophenhilfe sicherstellen, sondern auch das zivil-militärische Verhältnis stärken.

derStandard.at: Junge Österreicher müssen Wehrdienst oder Zivildienst in ihre Lebensplanung einbauen. Hätte ein Aussetzen der Wehrpflicht hier Auswirkungen, etwa auf ihre Wertewelt oder die Berufswahl?

Werkner: Hier sollten die beiden Varianten Wehrpflicht und Freiwilligenarmee nicht isoliert betrachtet werden. Der Wertewandel der Gesellschaft erfordert neue Formen der aktiven Teilhabe. Das Ziel muss dabei sein, die individuellen Rechte mit der Verantwortlichkeit des Individuums für die Gemeinschaft ins Gleichgewicht zu bringen. Das könnte durch ein verstärktes freiwilliges bürgerschaftliches Engagement erreicht werden.

Ein solcher Freiwilligendienst könnte einerseits der Persönlichkeitsentwicklung und Qualifizierung von Jugendlichen dienen, andererseits dem Gemeinwohl zugutekommen und Jugendliche zu aktiven Bürgern erziehen. Dabei könnte eine Trias von Freiwilligenarmee, Bürgerreserve und freiwilligem Gesellschaftsdienst eine zeitgemäße Alternative darstellen.

derStandard.at: Kann ein reines Berufsheer andere sicherheitspolitische Aufgaben erfüllen als ein Wehrpflichtigenheer?

Werkner: Ja, oder zumindest effektiver. Die Umstellung der meisten europäischen Streitkräfte auf Freiwilligenarmeen resultiert aus einem veränderten Aufgabenspektrum. Mit der Fokussierung auf internationale Einsätze ergeben sich neue Anforderungen: Zum einen erfordern sie eine moderne Ausrüstung, zum anderen eine höhere Professionalität der Soldaten.

Dabei können Wehrpflichtige aus militärischen, vor allem aber aus politischen Gründen nicht zu Auslandseinsätzen entsandt werden. Neben rechtlichen Bedenken werden insbesondere Opfer befürchtet, die öffentlich zu rechtfertigen wären.

derStandard.at: Manche wollen das Bundesheer gleich ganz abschaffen. Ist das eine utopische Idee?

Werkner: So utopisch muss es gar nicht sein. Wenn das Ziel der Schaffung einer europäischen Armee gelingt, könnte es Realität werden. (Katrin Burgstaller, derStandard.at, 17.1.2013)