
Reinhard Sieder: "Es ist schwer zu glauben, dass Verantwortliche der Stadt nichts von den Zuständen wussten."
Wien - Dass es bei all den Prügeln, Hieben und Schlägen durch Erzieher keinerlei Aufzeichnungen von Ärzten oder Rettungsdiensten gibt, die wegen der Schwere der Verletzungen immer wieder gerufen werden mussten, ist blanker Hohn für die ehemaligen Heimkinder. Zahlreich sind sie am Dienstagabend zur Vorstellung des Buches "Der Kindheit beraubt" erschienen, das Historiker Reinhard Sieder im Auftrag von Stadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) einst als Bericht erarbeitet hat.
"Diese Institutionen haben ihren Zweck völlig verfehlt. Wer es als Heimkind geschafft hat, im Leben Fuß zu fassen, hat das ausschließlich seiner eigenen Kraft zu verdanken", beschreibt Sieder den Schaden, der tausenden Menschen in dieser Zeit an Leib und Seele zugefügt wurde. "Es ist schwer zu glauben, dass Verantwortliche der Stadt nichts von den Zuständen wussten - die Gerüchte, die in der Bevölkerung bekannt waren, werden dem Jugendamt auch untergekommen sein", verdeutlicht Sieder den Vorwurf.
Betroffene beschreibt Missbrauch
"Die Berichte sind wohl genauso verschwunden wie die Axt bei uns im Heim, wenn Besuch da war", flüstert ein Mann seinem Sitznachbarn zu. Sie und zwei andere, die ihre Jugend im Heim im niederösterreichischen Wimmersdorf verbringen mussten, hätten schon 1982 Anzeige erstattet, erzählen sie. "Es wurde ein Gerichtsverfahren eingeleitet, zu dem wir aber nie geladen wurden. Passiert ist nichts", sagt einer von ihnen. Ein Amtsarzt habe die Erzieher, von denen sie jahrelang terrorisiert wurden, damals als "nicht vernehmungsfähig" eingestuft. "Somit ist das verjährt."
Während eine Betroffene aus ihrem Bericht vorliest, beschreibt, wie sie bereits als Siebenjährige vom Hauswart am Wilhelminenberg zu Oralverkehr gezwungen wurde, um den Prügelstrafen zu entgehen, nesteln einige Zuhörer sichtbar aufgewühlt an ihrer Kleidung. Andere starren auf den Boden, wieder andere nicken.
Nur eine Schwangerschaft habe sie aus dem Martyrium befreit, erzählt die Frau. "Damals war ich 13 Jahre alt, es war die einzige Möglichkeit, dem Heim zu entkommen", sagt sie mit fester Stimme.
Anschließende Diskussion
Drei andere lesen ebenfalls ihre Geschichten aus dem Buch vor. Eine Frau widmet ihre Lesung all jenen, "die am System verzweifelt sind und deswegen nicht hier sind". Entweder weil sie die Kraft dafür nicht haben oder weil sie gestorben sind. "Es gab Berichte über Suizidversuche, die auch das Magistrat bekommen hat", erzählt ein Zuhörer. Die Frau entschuldigt sich unter Tränen bei ihrem Sohn für all das, was er mittragen musste aufgrund ihrer traumatischen Vergangenheit.
Bei der anschließenden Diskussion steht ein Mann aus dem Publikum auf. Er will fragen, warum es keine österreichweite Untersuchung gibt, er stamme aus Kärnten und sei dort blutig geschlagen worden. Doch dann bricht er in Tränen aus, ein großgewachsener Mann von etwa 50 Jahren. Er kann nicht weitersprechen, jemand nimmt ihm das Mikrofon ab.
Die Frage, warum niemand von der Stadt Wien an diesem Abend anwesend ist, wird immer lauter. Die Einladung zur Veranstaltung sei zu kurzfristig erfolgt, sagt ein Sprecher von Oxonitsch am Mittwoch auf Nachfrage. Zudem habe die gemeinsame Präsentation des Berichtes bereits im Juni 2012 stattgefunden. Der zuständige Magistrat werde nun in Arbeitskreisen aus dem Bericht herausarbeiten, was für die Zukunft der Fürsorge Relevanz hat. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 17.1.2013)