Seit dem Beginn der Industrialisierung gab es neben dem arbeitsfetischistischen Mainstream stets Vertreter einer dissidenten Strömung, die das "Recht auf Faulheit" einforderten.

Selbst noch im 21. Jahrhundert, in dem die Arbeitslosenquoten im globalen Maßstab zwischen zehn und 90 Prozent liegen, klammern sich Gewerkschafter und christliche Sozialethiker, Liberale und Produktivitätsfanatiker an die Parole "Die Arbeit hoch!". In der Huldigung des Prinzips der Arbeit finden rechts und links, sozialdemokratischer Etatismus und liberaler Verwertungsdrang zueinander.

Jemand wie der Schriftsteller und Dandy Oscar Wilde hätte für dieses Theater vermutlich nur Verachtung übrig gehabt. In seinem leider viel zu wenig bekannten Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen aus dem Jahr 1891 heißt es ebenso knapp wie treffend: "Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen." Hätte sich die Linke in den letzten 100 Jahren mehr an Oscar Wilde orientiert, anstatt den Arbeitsfetischismus ihrer moralinsauren Vordenker aufzusaugen, hätte sie gewusst, dass fremdbestimmte Arbeit den Menschen in aller Regel nicht erfüllt, sondern fertigmacht. Sie würde nicht beklagen, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht, sondern skandalisieren, dass in der Gesellschaft solch eine begrüßenswerte Entwicklung zu keiner Befreiung, sondern zu immer größerem Elend führt.

Dissidente Strömung

Stimmen im Sinne von Oscar Wilde sind in gegenwärtigen Diskussionen über die "Zukunft der Arbeit" oder über ein "bedingungsloses Grundeinkommen", das in den meisten Konzeptionen wohl nicht viel mehr als eine alternative Form der Elendsverwaltung bedeuten würde, kaum zu hören. Doch seit dem Beginn der Industrialisierung gab es neben dem arbeitsfetischistischen Mainstream stets auch Vertreter einer dissidenten Strömung, die, wie etwa der Schwiegersohn von Karl Marx, Paul Lafargue, ein "Recht auf Faulheit" einforderten und den Drang der Arbeiterbewegung, die Verausgabung von Arbeitskraft zur geradezu anbetungswürdigen Selbstverwirklichung zu adeln, nicht mitmachen wollten.

Es ist das Verdienst des an der Universität Regensburg tätigen Literaturwissenschafters Rainer Barbey, diese Tradition, zu der keineswegs nur eindeutig "links" zu verortende Autoren gehören, sondern beispielsweise auch Friedrich Nietzsche, wieder in Erinnerung zu rufen. Im 20. Jahrhundert waren es vor allem Autoren der Kritischen Theorie wie Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse, die sich gegen die Anbetung der Arbeit wandten. In der von Barbey zusammengestellten Textsammlung werden die Lobredner der Arbeit mit den Kritikern der Schinderei und Plackerei, des Hackelns und Malochens konfrontiert.

Das Reich der Freiheit

Gegen Lenins der christlichen Arbeitsethik entlehntes Verdikt "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", das bereits einen Vorschein auf die stalinistischen Arbeitslager warf, steht Marx' Feststellung, dass das " Reich der Freiheit" erst dort beginne, wo "das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört" - ein gutes Beispiel, wie treffend sich der Ostblock-Sozialismus mit den Schriften von Marx kritisieren lässt. Während Michail Bakunin, der Vordenker des Anarchismus, die Arbeit zur "Grundlage der Menschenwürde" erklärte, beharrte Moses Hess, ein Freund von Marx, der zugleich einer der frühen Theoretiker des Zionismus war und als "roter Rabbi" die linkszionistische Tradition nachhaltig beeinflusst hat, auf der Unterscheidung zwischen "freier Thätigkeit" und "gezwungener Arbeit".

Ernst Jünger, der ein "für den Verzicht gerüstetes Glück" proklamierte und Arbeit und Freiheit in eins fallen ließ, womit er sich auch in diesem Punkt als veritabler Vordenker des nationalsozialistischen Opfer- und Arbeitskultes erweist, wird Bertrand Russells Lob des Müßiggangs aus dem Jahr 1932 gegenübergestellt, in dem der Philosoph und Antimilitarist seiner Hoffnung Ausdruck verlieh, durch eine deutliche Verringerung der Arbeitszeit werde es auf der Welt "wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung".

Unkommentierte Textsammlung

Leider handelt es sich bei Barbeys Lesebuch um eine fast völlig unkommentierte Textsammlung. Außer einem knappen Nachwort findet keinerlei Kontextualisierung der ausgewählten Passagen statt. Wie problematisch das ist, wird etwa bei Heinrich von Treitschke deutlich, dem Schöpfer der Parole "Die Juden sind unser Unglück", der von Barbey als "konservativer Publizist" vorgestellt wird. In dem Lesebuch kommt er lediglich mit seiner Anthropologisierung des Arbeitszwangs vor; über den Antisemitismus Treitschkes, nach dem heute noch zahlreiche Straßen in Deutschland benannt sind, erfährt man nichts. Ähnliches gilt für den Großindustriellen Henry Ford, der in dem Band mit einer kurzen Passage aus seiner Philosophie der Arbeit vertreten ist, in der er eine " nützlich" verbrachte, gesundheitsfördernde "Mußezeit" zur "Verbesserung unseres Geschäfts" und "zur Erstarkung" unseres Volkes" propagiert. Darüber, dass er ansonsten sowohl ein fanatischer Lobpreiser der Arbeit als auch ein wüster Antisemit war, wird der Leser nicht ins Bild gesetzt. Ford, dessen Schriften im Nationalsozialismus in hohen Auflagen verbreitet wurden, ist Autor des Machwerks Der Internationale Jude. Gerade an ihm ließe sich die Korrelation einer spezifischen Ausprägung des Arbeitsfetischismus mit dem Antisemitismus zeigen.

Leider fehlen in der Textauswahl wichtige Beiträge aus der neueren Debatte zur Arbeitskritik wie beispielsweise das in großer Auflage verbreitete Manifest gegen die Arbeit von der Gruppe Krisis oder das Manifest der glücklichen Arbeitslosen, das zu einer vergleichsweise breiten Debatte im deutschsprachigen Feuilleton geführt hat. Als historisch orientiertes Lesebuch kann der Band dennoch einen ersten Einstieg in die Diskussion bieten. (Stephan Grigat, DER STANDARD; 19/20.1.2013)